Der Neger in uns (1990)

Franz Martin Wimmer (Wien)[*]

Exotisch zu sein ist gut, es bringt Devisen. Entwickelt zu sein, ist auch gut, es bringt Märkte. Exotisch und entwickelt zu sein, ist sehr gut. Schlecht ist es, exotisch und unterentwickelt zu sein, es läßt abhängig bleiben. Ganz schlecht ist es, unterentwickelt und nicht exotisch zu sein, da kommen nicht einmal die Touristen mehr.

Die exotischen Plätze der Welt sind in der Regel nicht dort, wo das große Geld gemacht wird, aber manchmal liegen sie nahe beieinander, wie in Kalifornien oder in Japan. Die Zentren der bloßen Exotik lassen sich auch noch verkaufen und werfen ein bißchen für die Umgebung ab, wie in Bangkok und am Kilimandscharo. Richtig übel wird es erst dort, wo der Exotikwert einer Gegend nicht mehr ausreicht, einiges Aufsehen zu machen und das Produktions- oder Marktniveau noch nicht hoch genug ist, um das auszugleichen, wie in den meisten Gegenden außerhalb der hochindustrialisierten Länder.

Angeblich werden Millionen von westdeutschen Urlaubern im Sommer 1991 in die DDR fahren, sie werden die Sächsische Schweiz und Mecklenburg besuchen, den Zwinger in Dresden fotografieren. Dort finden sie gemäßigt Exotisches und gemäßigt Entwickeltes vor und werden außerdem kaum Sprachschwierigkeiten haben. Anderswo werden sie fehlen: in den Alpen (wohin es angeblich wieder die DDR-Urlauber ziehen soll), in Andalusien und in Kenia.

Was macht den Reiz des Exotischen aus? Es ist für manche Gegenden eine lebenswichtige Frage, darüber zur Klarheit zu kommen.Dazu also ein paar Feststellungen.

Erstens gibt es Erwartungen: stereotype Vorstellungen von einer eigentümlichen Lebensform, die fremd, aber gutartig ist, harmlos und doch leicht beunruhigend. So erwartet man von Alpenbewohnern eine gewisse Derbheit, die mit Lautstärke und Direktheit einhergeht. Man möchte unter solchen Leuten nicht leben, aber für die schönste Zeit des Jahres bilden sie eine ganz passable Umgebung.

Zweitens muß etwas vorhanden sein, was man mitnehmen kann, wenn auch vielleicht nur in Form eines Fotos. Es soll schließlich eine Erinnerung entstehen, man will auch vorzeigen, unter welch seltsamen Umständen und Leuten man sich vergnügt hat.

Drittens sollte sichergestellt sein, daß die Exoten nicht ungebeten anrufen, auftauchen und alles durcheinanderbringen. Das wird am besten dadurch bewerkstelligt, daß sie gut bezahlt werden und ihre Exotik nebenberuflich ausüben können. Auf keinen Fall geht es an, daß Exoten plötzlich kommen und ihre barbarischen Gebräuche nebenan praktizieren wollen.

Viertens ist Exotik erst dann richtig konsumierbar, wenn sie ordentlich organisiert und parfümiert ist. Wer will schon eine Kuh mit Kuhdreck oder eine Urwaldhütte ohne fließendes Wasser? Die Behausungen der Gummisammler in Brasilien sind nicht exotisch, sie sind elendig.

Fünftens sollten Exoten englisch können, wenn sie schon nicht deutsch sprechen. Man ist selbst ja welterfahren, kein Provinzler, und man kann daher auch gewisse Ansprüche stellen. Außerdem erfährt man erst dann wirklich etwas von einer Gegend, wenn man mit Einheimischen redet. Also sollten die sich auch ausdrücken können.

Sechstens müssen Exoten natürlich Exoten bleiben, auch wenn sie bleiben, wo sie sind. Am besten sorgt dafür die Reiseindustrie, schließlich wissen die von sich aus ja gar nicht, was so Besonderes an ihnen ist.Wenn es nicht möglich ist, sie ordentlich exotisch auszustaffieren, weil das entweder zu aufwendig wäre oder weil darunter die Exotik allzusehr litte, muß man die Touristen davor warnen, den Exoten Geld zu geben. Sie sind meist auch so schon zivilisationsgeschädigt genug, was bedeutet, ihre Verkaufbarkeit nimmt ab.

Siebtens sind daher alle Entwicklungsprojekte streng auf ihre Exotikverträglichkeit hin zu prüfen. Nichts ist auf Dauer der gedeihlichen Zusammenarbeit der verschiedenen Völker mit uns abträglicher, als wenn diese so sein wollen wie wir. Und wie sonst sollten sie wohl sein wollen? Die Exotikverträglichkeit ist sogar noch wichtiger als die Umweltverträglichkeit, denn erstere bringt das Geld, das zweitere kostet.

Achtens sollte endlich einmal eine Rangliste und eine vollständige Übersicht der exotischen Länder erstellt und dann laufend aktualisiert werden.Die jetzige Situation, wo nach dem Fall der Mauer und des Vorhangs ganze Regionen in Reichweite gelangen, die bisher weiter weg waren als Australien, schreit direkt danach. Die Prospekte der Reiseunternehmen geben zwar ein ganz gutes Ausgangsmaterial dafür ab, sind aber noch zu unsystematisch. Ein Gremium von Historikern, Ethnologen, Juristen und Sozialökonomen sollte sich damit befassen. Wegen zu erwartender Querelen dürfen präsumtive Exoten in diesem Verfahren keine Stimme haben, auch keine beratende. Das Ergebnis einer solchen wissenschaftlichen Erfassung könnte den jeweiligen Normalzustand der Menschheit, sowie den Exotisierungsgrad bestimmter Lebensformen und deren jeweiligen Abweichungsgrad vom Normalen, sowie den Index ihrer Vermarktbarkeit angeben. Damit wäre eine gute Orientierungshilfe in der Suche nach dem ganz Anderen gegeben. Die Liste sollte für Projektplanungen verwertet werden, aber doch nicht ganz öffentlich sein, am besten wäre wohl, sie an der Börse zu handeln. Exoten sollte sie keineswegs zugänglich gemacht werden.

Neuntens muß selbstverständlich den wechselnden Geschmäckern Rechnung getragen werden. Nicht alles ist für alle allzeit exotisch. Es gibt jedoch gewisse Konstanten: Tropisches (Ausnahme: Slums, Arbeitersiedlungen, Infektionskrankheiten) ist in der Regel exotisch; ebenso alles, was früher einmal zum alten Eisen geworfen wurde (wie beispielsweise Volksmusik, religiöse Bräuche, ländliche Trachten und dergleichen). Die auftretenden Geschmacksunterschiede werden nur an den Rändern dieses Spektrums zu deutlichen Verschiebungen führen, im übrigen sich aber lediglich in periodischen Umreihungen der Hitliste exotischer Dinge und Gegenden niederschlagen. Sie sind daher kalkulierbar. Die Kenntnis des Exotisierungsgrades einer Gegend und einer Bevölkerungsgruppe wird dienlicherweise auch bei der Standort- und Produktplanung weitdenkender Investoren herangezogen werden und auf diese Weise der Erhaltung des Weltfriedens nützen.

Zehntens muß eine scharfe Grenze gezogen werden zwischen der Exotik und Zivilisation einerseits, der Barbarei andererseits. Ein guter Exote kann ja immer auch einen ordentlichen Job ausüben. Barbarisch sind heutzutage nicht mehr die Wilden, dazu sind wir viel zu aufgeklärt, barbarisch sind die Untermenschen, die Proleten, die diversen sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, denen nicht einmal ein paar Volkstänze oder überwürzte Entrecôtes zuzutrauen sind. Leider, leider nehmen die echten Wilden immer mehr ab und die barbarischen Wirtschaftsflüchtlinge immer mehr zu, ob sie jetzt in Lagos, in Sao Paolo, in Paris oder in Wien zuziehen. Sie haben keinen rechten Sinn für das exotische Element, das sie sein könnten und so haben sie wirklich nichts bei uns verloren, weil sie ihre Exotik verloren haben. Der Polin Reiz ist unerreicht in der Operette, aber nicht, wenn sie sich am Schalter des Arbeitsamts anstellt.

[*] In: "Der Falter", Wien, Nr. 43, Okt. 1990


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