Themenschwerpunkte 1930-60 |
Philosophiehistorische
Literatur 1930-60
Wissenssoziologie und Ideologiekritik | Definitionstypen von Ideologie
Beispiele für philosophische und philosophisch relevante Literatur zwischen 1930 und 1960: pdf-File
Die in dieser Liste beispielhaft ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit Erscheinungsjahr zwischen 1930 und 1960 zeigen das Vorherrschen bestimmter Problemstellungen:
Strukturalismus: Jakobson 1952 und 1956, Lévi-Strauss 1955, 1958, 1962
Feminismus: Beauvoir 1949, Mead 1949
Existenzphilosophie und Existenzialismus:Jaspers 1931, Marcel 1935 und 1951, Bachelard 1940, Camus 1942 und 1951, Sartre 1943 und 1946, Blondel 1944, Beauvoir 1948, Cioran 1956, Hersch 1956, Bollnow 1959
Außereuropäische Philosophie: Iqbal 1930, Suzuki 1934, Aurobindo 1936 und 1949, Scholem 1941, Tempels 1945, Needham 1954, Nakamura 1960
Existenzialismus: Jaspers 1931, Sartre
1943, Beauvoir 1948
Kritischer Rationalismus: Popper 1934
Sprachanalytische Philosophie: Wittgenstein
1953
Hermeneutische Philosophie: Gadamer 1960
Apel, Max: Die Weltanschauungen der großen Denker. Leipzig: 1930.
Aster, Ernst von: Geschichte der Philosophie. Mit einem Anhang: Wie studiert man Philosophie? (8. Aufl. 1933, 10. Aufl. 1949, 12. Aufl. 1958, 13. Aufl. 1960, 18. Aufl. 1998) Leipzig (später: Stuttgart): Kröner.
Autorenkollektiv: Geschichte der Philosophie. Bd. 1-6. Berlin: VEB Dt. Verl. d. Wiss. 1959ff (zuerst russ.: Ak. d. Wiss: Moskva) Hauptwerk der marxistisch-leninistischen Philosophiehistorie, internationalistisch durchgeführt.
Bréhier, Emile: Histoire de la philosophie, 2 Bde. Paris: Alcan. 1928 - 48. Behandelt ausführlich auch "östliche Philosophien".
Brunschvicg, Leon: L'Esprit européen. Neuchatel: Ed. de la Baconniere. 1947.
Copleston, Frederick Ch.: A History of Philosophy. 9 Bde. London: Burns and Oates. 1946 - 74. Standardwerk in aristotelisch-thomistischer Tradition, behandelt ausschließlich okzidentale Philosophie.
Czermak, Theodor: Grundriß der Geschichte der Philosophie im Lichte der philosophia perennis. 3 Teile in 2. Warnsdorf: 1933 - 37.
Dempf, Alois: Selbstkritik der Philosophie und vergleichende Philosophiegeschichte im Umriß. Wien: Herder. 1947.
Dilthey, Wilhelm: Grundriss der allgemeinen Geschichte der Philosophie. Frankfurt/M.: Klostermann. 1949.
Eucken, Rudolf: (Hg.): Die Lebensanschauungen der großen Denker. Berlin: de Gruyter 1950
Fischl, Johann: Geschichte der Philosophie, 1. Aufl., 5 Bde. Graz: Pustet. 1947 - 54. (5 Auflagen, auch in Spanisch)
Gilson, Etienne: Vom Geist der mittelalterlichen Philosophie. Paderborn: Schöningh. 1950.
Glockner, Hermann: Vom Wesen der deutschen Philosophie. Stuttgart: 1941.
Gundlach, Bernhard: Das Problem der Geschichte der Philosophie. Hamburg: 1933.
Heinemann, Fritz: (Hg.): Die Philosophie im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett 1959
Hessen, Johannes: Die philosophischen Strömungen der Gegenwart. , 2. neub. u. erw. Auflage. Rottenburg a. N.: Bader 1940
Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie, 2 Bde. Freiburg/Br.: Herder. 1949 - 52. (14. Aufl. 1991) Einflussreiche Darstellung, platonisch-katholische Tradition.
Joel, Carl: Wandlungen der Weltanschauung. Philosophiegeschichte als Geschichtsphilosophie. 2 Bde.Tübingen: 1928 - 34.
Kafka, Gustav: Geschichtsphilosophie der Philosophiegeschichte. Ein Längsschnitt durch die Geschichte der abendländischen Philosophie als Beitrag zu einer Philosophie der Geistesgeschichte. Berlin: Junker und Dünnhaupt. 1933.
Lehmann, Gerhard: Die deutsche Philosophie der Gegenwart. Stuttgart: Kröner. 1943. Wichtigste nationalsozialistisch orientiere Darstellung.
Meyer, Hans: Abendländische Weltanschauung, 5 Bde. u. Register. Paderborn: Schöningh. 1947-50.
Michelitsch, Antonius: Illustrierte Geschichte der Philosophie. Graz: Styria. 1933.
Moog, W.: Das Leben der Philosophen.Berlin: 1932
Russell, Bertrand: A History of Western Philosophy. London: Allen and Unwin 1946. Betont explizit (Titel!), dass "Philosophie" nicht gleichzusetzen ist mit "okzidentaler Philosophie".
Schilling, Kurt: Einführung in die Geschichte der Philosophie. Heidelberg: Winter. 1949. (2 Bde. 2.verb. Aufl. 1951 - 53), vgl. auch dessen "Geschichte der Philosophie" (EA 1944) Vorarbeiten zu einer "Weltgeschichte der Philosophie", die 1964 erscheint.
Walther, Elisabeth: Geschichte der Philosophie in Tabellen. Kevelaer: Butzon und Bercker. 1949.
Leszek Kolakowski (1960):
Wir haben ... keinen Grund anzunehmen, daß das Wesen des kollektiven Bewußtseins organisierter Bewegungen eines Tages aufhört zu existieren. Das in einer organisierten Form bestehende politische Leben kann nicht auf den ideologischen Zement verzichten, dieser jedoch verdankt seine Festigkeit unter anderem dem Umstand, daß er keine rationale Kontrolle verträgt, die ein Element der Desintegration hineintragen würde. ("Der Mensch ohne Alternative", München: Piper 1960, S.29f)
Mit anderen Worten: Kolakowski hält die These für falsch, es könne jemals so etwas wie eine ideologiefreie Gesellschaft geben. Aber etwas anderes hält er für möglich - eine innere Freiheit des Individuums als "Frucht des philosophischen Denkens":
Wir treten
für
die Philosophie des Narren ein, also für die Haltung der negativen
Wachsamkeit gegenüber jedem Absoluten - und dies nicht auf Grund
eines
Ergebnisses nach Prüfung der Argumente, denn die wichtigsten
Entscheidungen
sind Wertung. Wir treten ein für außerintellektuelle Werte
...
Es geht uns um die Vision einer Welt, in der die am schwersten zu
vereinbarenden Elemente menschlichen Handelns miteinander verbunden
sind,
kurz, es geht uns um Güte ohne Nachsicht, Mut ohne Fanatismus,
Intelligenz
ohne Verzweiflung und Hoffnung ohne Verblendung. Alle anderen
Früchte
des philosophischen Denkens sind unwichtig. (op.cit. S.280)
Gehen wir von diesem marxistischen Kritiker am Marxismus als einer institutionalisierten, dogmatisch gewordenen Ideologie ("Eine Inspiration ist ... etwas anderes als die Leitung durch eine politische Organisation", op.cit. S.38) einen Schritt zurück, so lesen wir bei
Karl Jaspers (1949):
Unser Zeitalter
hat
Ideologien hervorgebracht und zugleich durchschaut. Was aber von Hegel
bis Marx und Nietzsche an tiefer Einsicht in diesem Sinne gewonnen
wurde,
das ist zu einer brutalen Waffe im kommunikationsabbrechenden Redekampf
geworden. Die Methode dieses Angriffs richtet sich gegen den Gegner als
solchen, gegen alle Anschauungen, die nicht die eigenen sind. Aber
gerade
die, die alles, was geglaubt, gedacht, vorgestellt wird, als Ideologie
verwerfen, sind oft selber besessen von der eigensinnigsten Ideologie
dieser
Deutungsweise.
"Unser Zeitalter hat Ideologien hervorgebracht" - wir haben nach
diesen
"Ideologien" zu fragen, was sie besagten, wie sie wirkten.
Jaspers selbst definiert so:
Somit wäre "Ideologie" schlicht "falsches Bewusstsein",
vermeintliche
und behauptete Stärke, Ausdruck von Ohnmacht.
Dies ist ein Verständnis von "Ideologie", es ist bestimmt
nicht das allgemeine - es ist z.B. nicht der marxistisch-leninistische
Sprachgebrauch, denn diesem zufolge gibt es eine (allerdings die
einzige)
"Ideologie", mit deren Zuschreibung keineswegs ein "Angriff" verbunden
ist, sondern die Vollendung der Aufklärung.
"... und zugleich durchschaut" - hier
denkt
Jaspers sicher (auch) an die "Wissenssoziologie", die in den
1920-er
Jahren ihren Ursprung hat. Bevor wir uns jedoch damit etwas
beschäftigen,
möchte ich einen (literarischen) Autor anführen, der eben in
jenen Jahren "Ideologie" als eine Art Lebensprothese beschreibt.
Robert Musil (1923):
Ideologie ist: gedankliche Ordnung der Gefühle; ein objektiver Zusammenhang zwischen ihnen, der den subjektiven erleichtert. Er kann philosophisch oder religiös oder ein traditionelles Gemisch aus beiden sein. Diese Definition ist nicht völlig genau, aber sie leistet gute Dienste. ...
Man spricht allgemeiner als von Ideologie von Bindungen, welche das Leben des Menschen halten. Wenn das Leben sozial gebunden und individuell nur beschränkt beweglich ist, ist es erleichtert. Einem gläubigen Katholiken oder Juden, einem Offizier, einem Burschenschafter, einem ehrbaren Kaufmann, einem Mann von Rang ist in jeder Lebenslage eine weit geringere Zahl von Reaktionen möglich als einem freien Geist; das erspart und sammelt Kraft. ("Der deutsche Mensch als Symptom", 1923. Wieder erschienen: Reinbek: Rowohlt 1967)
Auch für den Terminus "Ideologie" gilt, dass er viele und nicht
deckungsgleiche Bedeutungen im Lauf der Zeit angenommen hat. Wir haben
uns daher
Idolenlehre von Francis Bacon
von Verulam (1561-1626) zu Beginn des 17. Jahrhunderts.
In seinem "Neuen Organ der Wissenschaften" (1620) unterscheidet Bacon
vier "Trugbilder" oder "Idole", die zur Herausbildung von Vorurteilen
und
Irrtümern bei Menschen führen:
Die Wissenssoziologie des frühen 20. Jahrhunderts (Vertreter: Max Scheler, Werner Sombart, Wilhelm Jerusalem, Karl Mannheim, Theodor Geiger) gelangt, teilweise in Weiterführung marx'scher Analysen, zu der Auffassung, dass Weltanschauungen, Denkweisen u.ä. generell nicht Wissen im Sinn des Verfügens über wahre Aussagen vermitteln können. Sie vertreten entweder die These, dass es so etwas wie eine absolute Wahrheit überhaupt nirgendwo geben könne (Mannheim) oder nehmen an, dass wir Menschen, selbst wenn es so etwas gibt, doch nie in der Lage seien, sie zu erkennen (Scheler), weil das nur einem außergeschichtlichen "Gott" möglich wäre. So schreibt Scheler: Wir entgehen einem philosophischen Relativismus nicht durch Absolutheitsansprüche, sondern indem wir
das der Wesensidee des Menschen entsprechende absolute Ideen- und Wertreich ganz gewaltig viel höher über alle faktischen bisherigen Wertsysteme der Geschichte gleichsam aufhängen; daß wir zum Beispiel alle Güterordnungen, Zweckordnungen, Normordnungen der menschlichen Gesellschaft in Ethik, Religion, Recht, Kunst als schlechthin relativ und historisch wie soziologisch je standpunktlich bedingt preisgeben, nichts bewahrend als die Idee des ewigen Logos, in dessen überschwängliche Geheimnisse in Form einer hierzu wesensnotwendigen Geschichte des Geistes einzudringen nicht einer Nation, einem Kulturkreise, einem oder allen bisherigen Kulturzeitaltern zukommt, sondern nur allen zusammen - mit Einschluß der zukünftigen - in je solidarischer, zeitlicher wir räumlicher, Kooperation unersetzlicher, weil individualer einmaliger Kultursubjekte. (Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens, 1926)Dennoch hat
Karl Mannheim
(1893-1947)
analysiert in seinem Werk "Ideologie und Utopie" (1929) Liberalismus,
Konservativismus und Sozialismus als die drei großen Ideologien
seiner Zeit und sieht lediglich in der Denkfigur der "freischwebenden
Intelligenz" die Möglichkeit einer außer-ideologischen
Existenz.
Ein spätes
Beispiel des Vertrauens auf eine mögliche wertfreie (Sozial-)Wissenschaft und
zugleich der Skepsis gegenüber wertenden
Aussagen überhaupt begegnet uns bei dem Wissenssoziologen
Theodor Geiger
(1891-1952)
Er schreibt 1949:
In der Sache hatte einer solchen
Auffassung von wissenschaftlicher Wertfreiheit (deren Postulierung
durch Max Weber
zu einer der wichtigen Debatten des Jahrhunderts im sogenannten
"Werturteilsstreit" führte) der Phänomenologe
Alfred
Schütz (1899-1959) in seinem Werk
"Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt" (1932) entgegengehalten, dass
die sachgemäße - und in diesem Sinn "objektive" -
Beschreibung sozialer bzw. allgemein lebensweltlicher Sachverhalte gar
nicht möglich sei, ohne wertende Ausdrücke zu gebrauchen:
eine bloße sprachliche Wiedergabe von Sinneseindrücken
könnte beispielsweise nie etwas als "grausam" benennen, würde
aber unangemessen sein, wo tatsächlich Grausamkeit vorkommt - und
so weiter.
Die Geschichte des Begriffs "Ideologie"
und die unterschiedlichen Ansätze von "Ideologiekritik" werden
hier nicht thematisiert. Ich verweise dazu auf das Skriptum
"Ideologiekritik" zu meiner Vorlesung 1993/94.
Lediglich auf drei Typen von Definitionen sei hier kurz hingewiesen:
Zur Einstiegsseite der Vorlesung.
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Franz
Martin Wimmer
Erstellt: Sommersemester 2006