Spezielle Relativitätstheorie


9. Zwillingsparadoxon und Geodäten der Raumzeit
 

Die Reise

Wir kennen bereits den Effekt der Zeitdilatation und wissen, dass die Zeitdauer, die während eines Prozesses vergeht, beobachterabhängig ist. Wir wollen nun die Relativität der Zeit noch schärfer herausarbeiten und ein Gedankenexperiment konstruieren, das auf einen direkten Uhrenvergleich (d.h. das Ablesen zweier Uhren am selben Ort) hinausläuft.

Wir betrachten ein Zwillingspaar, das an einem Ort lebt, der sich geradlinig gleichförmig bewegt (z.B. auf der Erde, sofern die Schwerkraft ignoriert wird). Die Schwester will eine längere Reise machen, während der Bruder lieber zuhause bleibt. Also trennen sie sich. Ihre Geschichte ist in folgendem Raumzeit-Diagramm skizziert:

Es stellt die Raumzeit in einem Inertialsystem dar, in dem der bisherige gemeinsame Wohnort in Ruhe ist. Er entspricht der (rot dargestellten) Weltlinie des zuhause bleibenden Bruders. Die Weltlinie der Schwester ist in blau eingezeichnet: Im Ereignis A trennt sie sich von ihrem Bruder, fährt zunächst mit Geschwindigkeit v nach rechts, kehrt im Ereignis M um, fährt mit derselben Geschwindigkeit v wieder zurück und trifft im Ereignis B wieder zuhause ein.

Wie lange ist sie weggeblieben? Die beiden können sich nicht einigen. Sie vergleichen ihre Uhren, und diese zeigen verschiedene Zeiten an. (Im Extremfall einer sehr hohen Reisegeschwindigkeit v sind für den Bruder Jahrzehnte vergangen, während die Schwester nach ihrer eigenen Wahrnehmung nur einige Wochen unterwegs war).

Analysieren wir die Situation quantitativ: Für den Bruder ist zwischen den Ereignissen A und B die Zeit (Eigenzeit) T vergangen. Das ist die Dauer, die in seinem Inertialsystem zwischen den beiden Ereignissen A und B vergeht. Die Zeit (Eigenzeit), die für die (Uhr der) Schwester vergangen ist, wollen wir T ' nennen. Aufgrund der Symmetrie der Reise (und des obigen Diagramms) vergeht für sie zwischen den Ereignissen A und M die Zeit T '/2 , und zwischen M und B nochmals die Zeit T '/2. Wir betrachten den ersten Teil AM ihrer Reise. Hier liegt ein typischer Anwendungsfall für unser früheres Resultat über die Zeitdilatation (Formel (2) im betreffenden Abschnitt) vor: Die Schwester bewegt sich während dieses Teils ihrer Reise in einem Inertialsystem, stellt also eine "bewegte Uhr" dar. Zwischen A und M vergeht im Inertialsystem des Bruders (System, in dem die Schwester bewegt ist) die Zeit T/2, im Inertialsystem der Schwester (Ruhsystem der Schwester) die Zeit T '/2, und zwischen diesen beiden Zeiten gilt die Beziehung

T/2  =  (T '/2) (1 - v2/c2 )-1/2 , (1)

woraus

T  =  T ' (1 - v2/c2 )-1/2 (2)

folgt. Das ist die Formel für das Zwillingsparadoxon. Solange v von Null verschieden ist, ist T > T '. Für den Bruder ist also tatsächlich eine längere Zeit vergangen als für die Schwester. Ist v nahe an der Lichtgeschwindigkeit c, so wird der Faktor  (1 - v2/c2 )-1/2  sehr groß.

Das Zwillingsparadoxon ist also eine direkte Folge der Zeitdilatation. Es ist konzeptuell einfacher als dieses, da völlig klar ist, wie der Effekt gemessen wird: Man nehme zwei Uhren, bewege sie wie oben beschrieben und lese die von ihnen angezeigten Zeiten ab!

Im Abschnitt über den Bondischen k-Kalkül findet sich eine alternative Herleitung des Resultats (2)!
 

Gegenargument?

An diesem Punkt wird manchmal folgendes Gegenargument vorgebracht: Wie wäre es, dieselbe Situation vom Standpunkt des Ruhsystems der Schwester zu betrachten? Dann wäre der Bruder in Bewegung, und aufgrund der Zeitdilatation sollte die für ihn vergangene Zeit kürzer sein als jene für die (ruhende) Schwester.

Dieses Argument übersieht, dass sich die Schwester nicht gleichförmig bewegt. Zwischen den beiden Ereignissen A und M ist sie tatsächlich in einem Inertialsystem (das etwa einem von der Erde weg fliegenden Raumfahrzeug entspricht) in Ruhe. Bei M kehrt sie um - hier muss sie das Inertialsystem wechseln! Zwischen M und B ist sie in einem anderen Inertialsystem (das einem auf die Erde zu fliegenden Raumfahrzeit entspricht) in Ruhe. Der Bruder hingegen ist immer in einem einzigen Inertialsystem (dem der Erde) in Ruhe. Insgesamt wären also drei Inertialsysteme zu berücksichtigen.

Aus diesem Grund sind die Bewegungen von Schwester und Bruder nicht äquivalent. Manchmal wird das so ausgedrückt, dass die Schwester beschleunigt ist - sie kehrt ja im Ereignis M um, was einer ruckartigen Geschwindigkeitsänderung (also einer momentanen Beschleunigung) entspricht, während der Bruder nie beschleunigt wird. Das ist zwar richtig - es sollte aber nicht vermutet werden, dass der Wert der Beschleunigung in einfacher Weise die Größe des Effekts bestimmt.

Eine bessere Charakterisierung, was für Schwester und Bruder eigentlich verschieden ist, liefert das Raumzeit-Diagramm selbst: Die Weltlinie der Schwester ist keine Gerade - das kann sie auch nicht sein, wenn sie eine Reise beschreiben soll, die zuhause beginnt und endet. Es ist dieses Zusammenführen zweier Uhren, das für eine globale Verschiedenheit der beiden Reisewege verantwortlich ist. Im "Kleinen" ist - abgesehen vom Umkehrereignis M - die Situation zwischen Schwester und Bruder tatsächlich immer symmetrisch - nur global ist sie es nicht.

Um das genauer zu analysieren, stellen wir uns vor, dass sich die Schwester ab und zu fragt, was denn der Bruder "jetzt gerade" macht. Wenn das "jetzt" die Gleichzeitigkeit ihrem eigenen Ruhsystem bedeutet, so hängt die Antwort auf ihre Frage davon ab, ob sie sich noch am Hinweg oder bereits am Rückweg befindet. Das wird in diesen beiden Raumzeit-Diagrammen deutlich:

Im linken Diagramm sind einige Linien eingezeichnet. Alle Ereignisse auf jeder dieser Linien finden für die Schwester gleichzeitig statt, wenn sie sich am Hinweg befindet. Im rechten Diagramm sind die entsprechenden Linien "konstanter Zeit" für den zweiten Teil der Reise eingezeichnet: Alle Ereignisse auf jeder dieser Linien finden für die Schwester gleichzeitig statt, wenn sie sich am Rückweg befindet. (Wer die Anstiege dieser Linien berechnen möchte, findet im Abschnitt über die Lorentztransformation die Grundlagen dazu). Wir sehen, dass es einen Bereich von Ereignissen im Leben des Bruder gibt, die die Schwester in keinem ihrer beiden Inertialsysteme jemals als "jetzt" klassifizieren würde - er ist auf seiner Weltlinie in schwarz gekennzeichnet. Würden in der Formel (2) einfach T und T ' vertauscht, wäre sie falsch. Es gilt aber (aufgrund der Zeitdilatation, diesmal mit vertauschten Rollen von Schwester und Bruder)

T ' =  T '' (1 - v2/c2 )-1/2 , (3)

wobei T '' jener Anteil der Eigenzeit des Bruders ist, von dem die Dauer des schwarzen Bereichs abgezogen wurde. Das Gegenargument ist damit zurechtgerückt: Es ist gewissermaßen die schwarze "Lücke", die es hinfällig macht.
 

Geodäten

Das Zwillingsparadoxon in seiner oben angegebenen Form lässt sich leicht verallgemeinern. Tatsächlich muss sich die Schwester nicht gleichförmig weg- und wieder zurückbewegen - sie kann eine beliebige Reise unternehmen, nur muss sie irgendwann wieder zurückkehren. Bei einem Uhrenvergleich wird sich dann wieder herausstellen, dass für sie eine kleinere Eigenzeit vergangen ist als für den daheimgebliebenen Bruder. Im Abschnitt über die Zeitdilatation haben wir über beschleunigte Uhren gesprochen und die dortige Formel (4) hergeleitet, die wir jetzt in der Form

  t1  
TSchwester   =   ò dt (1 - v(t)2/c2 )1/2  .
  t0  
(4)

anschreiben. Dabei findet die Reise der Schwester zwischen den (im Inertialsystem des Bruders gemessenen) Zeiten t0 und t1 statt, und zur Zeit t bewegt sie sich mit Geschwindigkeit v(t). Die Formel gilt für beliebige beschleunigte Bewegungen der Schwester (sie müssen nicht einmal geradlinig sein) und stellt die von ihr gemessene Eigenzeit der gesamten Reise dar. Die Eigenzeit des Bruders ist immer  TBruder =  t1 - t0  und ist daher größer als TSchwester, gleichgültig, wie sie sich bewegt (solange sie nicht selbst ruht).

Damit sind wir einem besonders wichtigen Sachverhalt auf die Spur gekommen: Er ist im folgenden Diagramm dargestellt:

Gegeben seien zwei Ereignisse A und B. Im dargestellten Inertialsystem finden sie am selben Ort, aber zu verschiedenen Zeiten statt. Unter allen Reisenden, die sich in A trennen und in B wieder treffen, ist für denjenigen, der die ganze Zeit über in Ruhe geblieben ist, die längste Eigenzeit vergangen. Er ist der einzige unter all diesen Reisenden, der sich immer geradlinig gleichförmig (also - gemäß Trägheitssatz - kräftefrei) bewegt hat.

Dieselbe Situation kann in einem anderen Inertialsystem betrachtet werden, und ganz allgemein sieht sie so aus:

Gegeben seien zwei Ereignisse A und B, die durch Weltlinien verbunden werden können. (Diese Bedingung soll ausschliessen, dass Überlichtgeschwindigkeit nötig ist, um von A nach B zu gelangen). Unter allen Weltlinien, die in A beginnen und in B enden, entspricht jene der kräftefreien Bewegung, für die die längste Eigenzeit vergangen ist. Eine solche Weltlinie wird Geodäte (der Raumzeit) genannt. Eine Geodäte der Raumzeit ist, wenn man es so ausdrücken will, die "längste Verbindung zweier Punkte" - wobei "längste" im Sinne der Eigenzeit gilt, unter "Verbindung" eine Weltlinie gemeint ist und "Punkte" für "Ereignisse" steht.

Wir finden also das Resultat

"Die Weltlinie einer kräftefreien Bewegung ist eine Geodäte."

Manchmal wird es salopp so ausgedrückt: "Kräftefreie Teilchen bewegen sich auf Geodäten". Aber Achtung: Im Kontext der Raumzeit handelt es sich nicht um räumliche Linien, sondern um "raumzeitliche Linien", also Weltlinien.

Geodäten gibt es auch in der euklidischen Geometrie: Dort ist eine Geodäte die "kürzeste Verbindung zweier Punkte", und die Entsprechung unseres Resultats lautet: "Jede Gerade ist eine Geodäte".

Im Rahmen der Speziellen Relativitätstheorie ist unser Resultat nicht umwerfend wichtig, da die kräftefreie Bewegung an ihrer Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit erkannt wird und ein zusätzliches Kriterium gar nicht benötigt wird. Seine volle Bedeutung erlangt es erst, wenn es auf die Allgemeine Relativitätstheorie übertragen wird, denn dort stehen aufgrund der Krümmung der Raumzeit die Begriffe der Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit nicht mehr zur Verfügung.


¬   Lorentztransformation Übersicht Relativität der Geradlinigkeit   ®