Spezielle Relativitätstheorie


12. Relativistischer Impuls und dynamische Masse
 

Die relativistische Theorie von Masse, Impuls und Energie - der Gegenstand dieses und des nächsten Abschnitts - ist insofern untypisch für diesen Lehrgang, als sie nicht von reinen "Raumzeit"-Effekten (von Zeiten und Abständen) handelt und nicht eindeutig aus den beiden zentralen Postulaten der Speziellen Relativitätstheorie folgt. Um relativistische Versionen dieser Größen zu entwickeln, sind darüber hinausgehende Annahmen notwendig (wie es übrigens in jeder physikalischen Theorie der Fall ist, die in eine "relativistische Version" gebracht werden soll). Das wird in diesen beiden Abschnitten vorgeführt. Was in ihnen nicht behandelt wird, sind Themen der relativistischen Mechanik, die über diese Grundbegriffe und die Erhaltungssätze von Impuls und Energie hinausgehen. Lediglich auf den Begriff der Kraft werden wir zum Abschluss kurz eingehen.

Ein Arrangement zur Messung des Impulses

Unter den Methoden, unser Thema anzugehen, wählen wir eine aus und kommen ohne Umschweife zur Sache:

Stellen wir uns folgende Situation vor: Ein Körper der Masse m fliegt (in x-Richtung) auf ein ruhendes Hindernis (z.B. eine Holzwand) zu. Seine Geschwindigkeit u sei sehr viel kleiner als die Lichtgeschwindigkeit c, so dass die nichtrelativistische Mechanik anwendbar ist. Dann steht außer Frage, was die Masse m physikalisch bedeutet und wie sie gemessen werden kann. Das Inertialsystem, in dem das Hindernis ruht, nennen wir I.

Beim Aufprall findet eine Wechselwirkung statt, und der Körper dringt in das Hindernis bis zu einer gewissen Tiefe d ein und bleibt dort stecken:

Die Wechselwirkung sei so eingerichtet, dass die Eindringtiefe d proportional zum Impuls  p = m u  ist, den der Körper im Anflug gehabt hat. (Das ist nicht selbstverständlich, kann aber arrangiert werden). Der Impuls ist ein Maß für die "Wucht", mit der der Körper auftrifft, und diese lässt sich an d ablesen. Unsere Anordnung kann daher als Experiment zur Messung des Impulses betrachtet werden.
 

Eine eigenartige Situation und ein Ausweg

Wir betrachten denselben Prozess nun von einem Inertialsystem I' aus, das sich gegenüber I mit Geschwindigkeit v in y-Richtung (in den folgenden Abbildungen: in vertikaler Richtung) bewegt:

Die Geschwindigkeiten seien so abgestimmt, dass u sehr viel kleiner als v ist. (Man könnte u eine "nichtrelativistische" Geschwindigkeit nennen, während v beliebig ist. Es gilt also u << v < c). Die beiden beteiligten Körper haben nun eine vertikale Geschwindigkeitskomponente v (und sind durch die Lorentzkontraktion in dieser Richtung verkürzt). Der fliegende Körper hat zudem eine Geschwindigkeitskomponente in x'-Richtung, die wir mit u' bezeichnen. Diese Komponente ist nicht gleich u, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte, sondern kleiner: Aufgrund des Effekts der Zeitdilatation geht eine in I ruhende Uhr (die wir zur Messung der horizontalen Geschwindigkeitskomponente einsetzen) in I' um den Faktor  (1 - v2/c2 )-1/2  langsamer als in I. Da andererseits u << c ist, müssen wir keine Lorentzkontraktion in horizontaler Richtung in Rechnung stellen, und horizontale Abstände sind in I' gleich groß wie in I. Insgesamt folgt, dass die horizontale Geschwindigkeitskomponente des Körpers in I' um den Faktor  (1 - v2/c2 )1/2  kleiner als jene in I ist. Damit haben wir gezeigt, dass

u'  =  u (1 - v2/c2 )1/2 (1)

ist. Nun prallt der Körper auf das Hindernis:

Die Eindringtiefe hat, wenn sie in I' gemessen wird, denselben Wert d wie in I, da in horizontaler Richtung keine Lorentzkontraktion stattfindet. Das ist zunächst ein eigenartiges Ergebnis: Von I' aus betrachtet, bewegt sich der Körper in horizontaler Richtung langsamer als in I, schlägt aber ein genauso tiefes Loch!

Wie sollen wir mit dieser Situation umgehen? Der Grund, warum ein so langsam auf das Hindernis zufliegender Körper ein so tiefes Loch schlägt, liegt offensichtlich darin, dass er noch eine Geschwindigkeitskomponente in die vertikale (y-)Richtung hat. Wenn wir uns nicht damit abfinden wollen, dass das Produkt aus m und der horizontalen Geschwindigkeitskomponente nur dann als Wucht des Aufpralls interpretiert werden darf, wenn keine überlagerte Bewegung in vertikale Richtung stattfindet, ist ein bisschen theoretische Kreativität gefragt. Unsere Postulate helfen hier nicht unmittelbar weiter.

Zunächst ist es sinnvoll, darauf zu bestehen, dass

  • die horizontale Impulskomponente in I' durch das Produkt der Masse mit u' definiert ist (u' ist ja ebenso wie u eine kleine, "nichtrelativistische" Geschwindigkeit, und da erscheint es nicht vermessen, die Gültigkeit dieser nichtrelativistischen Formel zu verlangen), und dass
  • diese Impulskomponente in I' ebenso ein Maß für die Wucht des Aufpralls (d.h. die Eindringtiefe) sein soll wie jene in I.
Aus dem zweiten Punkt folgt, dass die horizontalen Impulskomponenten in beiden Inertialsystemen gleich sein müssen, da ja die Eindringtiefe, in beiden Systemen gemessen, d ist. Wenn das der Fall ist, ergibt sich aus dem ersten Punkt zwangsläufig, dass die Masse des Körper in I' nicht durch m gegeben sein kann! Wenn wir unsere Forderungen aufrechterhalten wollen, müssen wir dem Körper zugestehen, (zumindest in einem gewissen Sinn) in verschiedenen Inertialsystemen verschiedene Massen zu haben und bezeichnen die Masse, die er in I' hat, mit m'. Die Gleichheit der horizontalen Impulskomponenten drückt sich als Formel einfach so aus: m u = m' u'. Mit Hilfe von (1) bestimmen wie die Masse im Inertialsystem I' zu

m'  =  m (1 - v2/c2 )-1/2 . (2)

Diese Formel legt nahe, dass ein Körper, der von einem bewegten Inertialsystem aus beobachtet wird, eine größere Masse hat als in seinem Ruhsystem. Um nicht in mehrdeutige Bezeichnungen zu verfallen, einigen wir uns zunächst auf einige Sprachregelungen:

Die Masse, die ein Körper in seinem Ruhsystem hat, wird als seine Ruhemasse bezeichnet. (Diese Größe ist es auch, die in nichtrelativistischen Situationen, in denen alle Geschwindigkeiten sehr klein gegenüber c sind, als "Masse" auftritt). Einem Körper der Ruhemasse m, der sich (von einem Inertialsystem aus betrachtet) mit Geschwindigkeit v bewegt, wird die dynamische Masse (oder relativistische Masse)

mdyn     =     m  
________
  _______
Ö1 - v2/c2
(3)

zugeordnet. Die Ruhemasse eines Körpers wird manchmal auch mit mo bezeichnet. (Leider finden sich in der Literatur zwei Konventionen: Wird einfach "Masse" gesagt, so ist damit meistens die Ruhemasse, manchmal aber die dynamische Masse gemeint). Weiters definieren wir den relativistischen Impuls (der einfach mit dem Buchstaben p bezeichnet wird) als

p   =    mdyn v    =     m v    . 
________
  _______
Ö1 - v2/c2
(4)

Verläuft die Bewegung in eine beliebige räumliche Richtung, so gilt die Formel ebenso, wobei v und p Vektoren sind. Für kleine Geschwindigkeiten geht die dynamische Masse in die Ruhemasse und der Impuls in das Produkt aus Ruhemasse und Geschwindigkeit über. Für Geschwindigkeiten nahe c werden beide beliebig groß. (Wir wollen nicht unerwähnt lassen, dass unsere gesamte Argumentation, und daher auch alle Formeln, für die sogenannten "masselosen Teilchen" - z.B. Photonen - nicht zutrifft, denn diese Teilchen bewegen sich immer mit Lichtgeschwindigkeit - davon mehr im nächsten Abschnitt).

Was bedeutet das alles? Haben wir mit (3) und (4) lediglich unsere Bezeichnungen umgeschrieben oder neue (durch Beobachtungen überprüfbare) physikalische Phänomene entdeckt? Es handelt sich tatsächlich um neue Phänomene, die sich hier ankündigen, und deren Tragweite wir erst im nächen Abschnitt voll ermessen werden können, wenn wir die Themen relativistische Energie und Ruheenergie besprechen. Was die Interpretation der beiden Formeln (3) und (4) betrifft, ist es Geschmackssache, ob man

  • sich vorstellt, die "Masse" eines bewegten Körpers ist tatsächlich größer als die in seinem Ruhsystem geltende (man spricht dann von der relativistischen Massenzunahme), wodurch der Impuls nach wie vor durch die traditionelle Formel "Masse mal Geschwindigkeit" definiert werden kann, oder ob man
  • sich vorstellt, die Formel  p = m v (1 - v2/c2 )-1/2  ist eine Neudefinition des Impulses, während der Begriff "Masse" die Ruhemasse bezeichnen soll, und zwar als Parameter, der etwa einem Elementarteilchen in derselben Weise zugeordnet werden kann wie die elektrische Ladung. Nach dieser Auffassung kann auf die Formel (3) und die Bezeichnung "dynamische Masse" sogar verzichtet werden.

Die Bezeichnung "dynamische Masse" ist in jedem Fall nützlich, um die Ruhemasse von der Größe (3) zu unterscheiden. Wichtiger hingegen ist die Frage, wie sich der relativistische Impuls in experimentell überprüfbarer Weise äußert. Ihr wenden wir uns abschließend noch zu.

Impulsmessungen an Körpern (oder Teilchen) sind nur aufgrund von Wechselwirkungen mit anderen Körpern möglich, denn ansonsten wäre die Formel (4) eine bloße Definition, die keinerlei Konsequenzen nach sich zöge. Die zentrale Idee dabei ist die der Impulsübertragung zwischen den Partnern eines physikalischen Prozesses. Sie ist aber nur dann sinnvoll, wenn kein Impuls verloren geht.
 

Erhaltung des Impulses

Die wichtigste Eigenschaft des Impulses besteht darin, dass er (in einem abgeschlossenen System) eine Erhaltungsgröße ist - das gilt in der galileischen Physik ebenso wie in der Relativitätstheorie.

Im Rahmen der nichtrelativistischen Mechanik ist darunter folgendes gemeint: In einem System von Massenpunkten, die miteinander in beliebiger Weise wechselwirken, das aber insgesamt abgeschlossen ist (d.h. keine Wechselwirkung mit seiner Umgebung eingeht), ändert sich die Summe der Impulse aller Teilchen mit der Zeit nicht. Unter dem Impuls eines Teilchens ist dabei das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit gemeint, wobei alle Bewegungen auf ein beliebiges Inertialsystem bezogen werden.

Diese Aussage ist in der Natur verletzt, wenn große Geschwindigkeiten (die gegenüber c nicht verschwindend klein sind) auftreten. An die Stelle der nichtrelativistischen Mechanik muss eine Theorie treten, die mit der Grundstruktur der Speziellen Relativitätstheorie übereinstimmt: die relativistische Mechanik. Die wichtigste Aussage, die sie über den relativistischen Impuls macht, ist der Satz von dessen Erhaltung (der im Sinne einer zusammenhängenden Argumentation auch als eigenes Postulat aufgefasst werden kann):

In einem System von Massenpunkten, die miteinander in beliebiger Weise wechselwirken, das aber insgesamt abgeschlossen ist (d.h. keine Wechselwirkung mit seiner Umgebung eingeht), ändert sich die Summe der relativistischen Impulse aller Teilchen mit der Zeit nicht. Unter dem relativistischen Impuls eines Teilchens ist dabei der durch (4) gegebene Ausdruck (in vektorieller Form) gemeint, wobei alle Bewegungen auf ein beliebiges Inertialsystem bezogen werden.

Da der relativistische Impuls für kleine Geschwindigkeiten in das Produkt "Masse mal Geschwindigkeit" übergeht, ist der Impulserhaltungssatz der nichtrelativistischen Mechanik in dieser Aussage als Grenzfall enthalten.
 

Experimentelle Überprüfung

Der Satz von der Erhaltung des relativistischen Impulses ist eine experimentell überprüfbare Aussage. Er wird tagtäglich durch Messungen in Teilchenbeschleunigern bestätigt. In ihnen werden beispielsweise Umwandlungsprozesse von Elementarteilchen betrachtet: Zwei Teilchen treffen mit hoher Geschwindigkeit aufeinander. Ihre Wechselwirkung gibt Anlass zur Erzeugung eine Reihe anderer Teilchen. Sind die Ruhemassen der Teilnehmer eines solchen Prozesses bekannt, und werden ihre Geschwindigkeiten gemessen, so kann die Summe der relativistischen Impulse (4) vor und nach der Reaktion berechnet und deren Erhaltung überprüft werden.

Wird ein bestimmter Prozess betrachtet, in dem einige dieser Größen zunächst unbekannt sind, so kann der Satz - gemeinsam mit dem Satz von der Erhaltung der relativistischen Energie, den wir im nächsten Abschnitt besprechen werden - dazu verwendet werden, Voraussagen über sie zu machen. Er gehört mittlerweile zum Handwerkszeug der Elementarteilchenphysik.
 

Ein paar Worte über die Kraft

Um den Impuls eines Körpers zu ändern, muss eine Kraft auf ihn angewandt werden. In einer modernen Sprache ausgedrückt, ist die Kraft die Änderungsrate des Impulses (die Ableitung des Impulses nach der Zeit: dp/dt) in einer solchen Situation. Das ist in der nichtrelativistischen Mechanik so und wird auch in der relativistischen Mechanik dazu benutzt, um zu definieren, was unter dem Begriff der Kraft zu verstehen ist.

Die auf ein Teilchen wirkende Kraft ist also, wie durch Differentiation von (4) hervorgeht, nicht mehr durch "Masse mal Beschleunigung" (m d2x/dt2 º m dv/dt), sondern durch eine etwas kompliziertere Formel gegeben, die für kleine Geschwindigkeiten in den nichtrelativistischen Ausdruck übergeht. Dementsprechend haben die relativistischen Bewegungsgleichungen für ein Teilchen unter der Wirkung einer gegebenen Kraft (z.B. in einem äußeren elektromagnetischen Feld) eine etwas kompliziertere Form als die nichtrelativistischen. Bei diesen Bemerkungen wollen wir es belassen.

Aufgabe hierzu:

  • Berechnen Sie die Ableitung des relativistischen Impulses (4) nach der Zeit (in einer und in drei räumlichen Dimensionen), um festzustellen, inwiefern sich eine relativistische Bewegungsgleichung von der Aussage "Kraft ist Masse mal Beschleunigung" unterscheidet!

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