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Von Graphen, Genen und dem WWW


Online-Skriptum


Eva, Ursula und Adam
 

Mitochondrien

Viel Gescheites, aber auch viel Unsinn ist seit der "Entdeckung" der "mitochondrialen" (oder afrikanischen) Eva geschrieben und geglaubt worden. Wir wollen uns die Angelegenheit hier vom Standpunkt der Mathematik ansehen und so manches Missverständnis ausräumen. Interessanterweise sind die genetischen Befunde mit etwas Wahrscheinlichkeitsrechnung nachvollziehbar, und es ergeben sich daraus Erkenntnisse über die Größe der Menschheit zu Evas Zeiten und einige grundlegende Mechanismen über die Entstehung neuer Populationen und Arten.

Ende der achziger Jahre kam eine neue Methode auf, entwicklungsgeschichtliche Verhältnisse des modernen Menschen aufzuklären: Mitochondrien - die "Kraftwerke" der Zellen - haben zwei besondere Eigenschaften:

  • Sie enthalten ringförmige DNS-Stränge, die (wie auch die DNS des Zellkerns) Bauanleitungen für die Synthese von Proteinen enthalten.
  • Die in dieser DNS gespeicherte Information ist - im Unterschied zur Zellkern-DNS - nicht der Vermischung (Rekombination) durch sexuelle Fortpflanzung unterworfen. Sie wird von der Eizelle beigesteuert, d.h. ausschließlich von der Mutter auf die Kinder übertragen.

Jeder DNS-Ring besteht aus 16 569 Basenpaaren und enthält einen Bereich von ungefähr 500 Basenpaaren, der nicht für Proteine kodiert. Wenn in dieser so genannten "Kontrollregion" durch eine zufällige Mutation ein Basenpaar durch ein anderes ersetzt wird, so bringt das, soweit wir heute wissen, weder Vor- noch Nachteile für den Träger mit sich. (Mutationen in der Kontrollregion sind "selektionsneutral"). Passiert das in der Keimbahn einer Frau, so geht die veränderte Sequenz an ihre Kindern über. Die Töchter übertragen sie wiederum an ihre Kinder, usw.

In Wahrheit ist es etwas komplizierter: Es dauert ungefähr sechs Generationen, bis sich herausstellt, ob eine zufällige Mutation in der Kontrollregion eines DNS-Rings in einem Mitochondrium sich durchsetzt oder untergeht. Die Menschen, die während dieses Zeitraums in der betrachteten Erblinie geboren werden, tragen Mitochondrien zweierlei Typs (mit und ohne die Mutation) in ihren Zellen. Der Einfachheit halber werden wir diese Komplikation aber ignorieren.

Mitochondrien-Mutationen werden also immer entlang der weiblichen Linie weitergegeben. Während genügend langer Zeiträume können sich mehrere Mutationen ansammeln, so dass die Sequenz der Kontrollregion sich an immer mehr Stellen von der ursprünglichen unterscheidet. Auf ein solches Phänomen sind wir in einem früheren Abschnitt bereits gestoßen: hier tickt eine "molekulare Uhr". Da sich die Bedingungen im Inneren einer Zelle kaum ändern, dürfen wir einen regelmäßigen Gang dieser Uhr erwarten. Im Durchschnitt tritt in einer weiblichen Erblinie ungefähr alle 10 000 Jahre eine Mutation der Kontrollregion auf - eine ideale Mutationsrate, um Verwandtschaftsstrukturen zu untersuchen, die die Geschichte der letzten hundertfünfzigausend Jahre widerspiegeln (und, nebenbei bemerkt, etwa zehnmal so groß wie der Mutationsrate von Zellkern-DNS).
 

Eva

Wer ist nun Eva? Sie ist in gewisser Weise die "weibliche Antwort" auf die Frage, wo wir modernen Menschen herkommen. Hat sich unsere Art, Homo sapiens, an verschiedenen Orten aus lokalen Populationen der früheren Menschenart Homo erectus entwickelt? Zählt Homo neanderthalensis zu unseren Ahnen? Die Sequenzierung der Mitochondrien-DNS heutiger Menschen liefert starke Indizien dafür, dass beides nicht der Fall war. Die größte bisher gefundene Differenz zwischen den Kontrollregionen in den Mitochondrien zweier heutiger Menschen beläuft sich auf 14 Unterschiede. Die aus Neandertalerknochen extrahierte DNS weicht hingegen an 26 Stellen von der eines durchschnittlichen heutigen Europäers ab - ein klarer Hinweis darauf, dass sich die Neandertaler-Linie von unserer getrennt hatte, lange bevor Homo sapiens Afrika verließ, und dass später keine Vermischung mehr stattfand. (Ob sie genetisch möglich gewesen wäre, wissen wir nicht, und falls es sie dennoch gegeben hat, muss sie sehr selten gewesen sein).

Sehen wir uns nun ein bisschen im Detail an, was uns die Mitochondrien über unsere Vergangenheit erzählen. Nehmen wir eine beliebige Gruppe von Menschen, und fragen wir, woher sie ihre Mitochondrien-DNS haben. Dazu verfolgen wir alle aufsteigenden mütterlichen Erblinien (Mutter, Großmutter mütterlicherseits,...). Nach und nach werden sich diese Linien vereinigen, bis sie schließlich bei einer eindeutig bestimmten Frau zusammenlaufen - der jüngsten gemeinsamen Vorfahrin, mit der die betrachteten Menschen durch eine ununterbrochene weibliche Erblinie bunden sind. Sie ist die jüngste "maternale Vorfahrin", wie der Fachausdruck dafür lautet. Machen wir das mit einem Geschwisterpaar, so ist die jüngste maternale Vorfahrin die (gemeinsame) Mutter. Machen wir das mit der gesamten Menschheit, so ergibt sich ebenfalls eine eindeutig bestimmte Frau. Das ist Eva. Würden wir den Verwandtschaftsgraphen der Menschheit bis in die fernste Vergangenheit kennen, so könnten wir sie problemlos ermitteln. Von ihr stammen wir alle über eine ununterbrochene maternale Erblinie ab.

Eva muss zumindest zwei Töchter gehabt haben (ansonsten wäre sie nicht die jüngste maternale Vorfahrin). Die Mitochondrien-DNS in den Erblinien, die von jeder dieser Töcher ausgehen, entwickelten sich fortan getrennt. Aufgrund der Mutationen, die sich seither in den einzelnen Linien unabhängig voneinander angesammelt haben, wurde grob anbeschätzt, dass Eva vor ungefähr 150 000 Jahren gelebt hat.
 

Ursula, Jasmin, Helena, Lara und Xenia

Aber nicht nur Eva, auch andere besondere Frauen ("Clanmütter" oder Clangründerinnen) sind auszumachen. Während der letzten zehn Jahre wurde die Mitochondrien-DNS zahlreicher Menschen (vor allem von Europäern, aber auch von etlichen tausend Menschen aus anderen Kontinenten) sequenziert und miteinander verglichen. Daraus ergab sich, dass ungefähr 95% der europäischen "Ureinwohner" in sieben Gruppen ("maternale Clans") zerfallen. Sie wurden aus dem Datenmaterial durch aufwendige Computerberechnungen ermittelt. (Die Hauptschwierigkeit bestand darin, Parallelmutationen, die unabhängig voneinander an denselben DNS-Stellen auftraten, zu identifizieren). Von diesen sieben Frauen dürften fast alle Europäer in maternaler Linie abstammen. Die älteste, Ursula, lebte vor ungefähr 45 000 Jahren, die jüngste, Jasmin, vor 10 000 Jahren. Jene mit dem größten Clan ist Helena, die vor 20 000 Jahren lebte. Innerhalb der Clans gibt es Untergruppen, die sich wiederum auf spätere (durch Mutationen überlieferte) Verzweigungen beziehen. Weltweit wurden bisher 33 maternale Clans identifiziert, und alle ihre Gründerinnen haben Namen bekommen.

Um uns vorzustellen, wie es dazu kommt, verfolgen wir die maternalen Erblinien der heute lebenden Menschen (aufsteigend) in die Vergangenheit zurück. Viele werden sich nach wenigen Generationen vereinigen. Je weiter wir zurückschreiten, um so kleiner wird ihre Zahl werden, wie hier schematisch dargestellt:

Es werden aber auch die Punkte, an denen die maternalen Erblinien zusammenlaufen, seltener. Sie kennzeichnen Frauen, die wirklich gelebt haben. Die × Symbole im obigen Dragramm stellen die Mitochondrien-Mutationen dar, anhand derer diese Frauen (ungefähr) lokalisiert, ihre maternalen Nachfahren (Clans) bestimmt und ihre Lebenszeiten abgeschätzt werden können. (Anstelle der bisher identifizierten 33 Clanmütter haben wir hier nur zwei eingezeichnet. Auch die Abstände entsprechen nicht den wirklichen Zeiten: Eva und Ursula trennten 5000 Generationen, während Ursula vor etwas mehr als 2000 Generationen lebte).

So kommen wir durch rein formale Überlegungen zu dem Schluss: Einige wenige Frauen stehen an den Punkten, an denen die maternalen Erblinien großer Gruppen heutiger Menschen zusammenlaufen.

Dabei handelt es sich keineswegs um nutzlose Spekulationen - so wurde durch die Analyse von Mitochondrien-DNS die alte Streitfrage gelöst, ob die Inseln des Pazifik von Asien oder Amerika aus besiedelt wurden - ersteres war der Fall. (Genau genommen gelten diese Untersuchungen nur für die weibliche Erblinie. Nach ihnen wäre es möglich, dass aus Amerika kommende Männer in den pazifischen Raum eingewandert sind. Analoge Untersuchungen an Y-Chromosomen, über die wir weiter unten sprechen werden, lassen aber auch dies als sehr unwahrscheinlich erscheinen). Auch lässt sich aufgrund dieser Untersuchungen quantifizieren, dass die Europäer zu etwa 20% von Einwanderern aus dem Nahen Osten, die (ab etwa 9000 Jahren vor unserer Zeit) die Landwirtschaft mitbrachten, und zu 80% von einzeitlichen Jägern und Sammlern, die schon lange zuvor hier wohnten, abstammen. Ein anderer interessanter Punkt, den die Daten nahelegen, betrifft die Auswanderung von Menschen aus ihrer afrikanischen Heimat vor ungefähr 100 000 Jahren. Es scheint sich nur einer der 13 afrikanischen Clans (jener, dessen Begründerin Lara genannt wurde) daran beteiligt haben. Das spricht dafür, dass es eine sehr kleine Gruppe war, die damals aufbrach, und von der sich die "Ureinwohner" Eurasiens, Ozeanien und Amerikas herleiten.

Die Clans decken sich nicht mit der Einteilung der Menschen in "Stämme", "Völker" und "Kulturen". So lassen sich beispielsweise unter den indigenen Einwohnern Amerikas maternale Nachfahren von Xenia identifizieren, die vor 25 000 Jahren wahrscheinlich in Europa oder dem westlichen Asien gelebt hat. Alles in allem unterstüzen die genetischen Daten die Ansicht, dass die Menschheit von Anfang an eine bunte Mixtur darstellte, die ständig in Bewegung war.
 

Alice

Wie haben wir uns die "Urmutterschaft" Evas vorzustellen? Hier drängt sich ein Problem auf: Was ist das Besondere an Eva? Gleichzeitig mit ihr haben sicher viele andere (hunderte oder tausende) Frauen gelebt und Kinder bekommen. Wieso sind sie nicht auch "Urmütter" geworden? Dasselbe Problem tritt auf, wenn wir uns auf die (besser durch archäologische Funde dokumentierten) Verhältnisse, in denen die europäischen Clanmütter gelebt haben, beziehen. Welcher Mechanismus macht Ursula, die vor 45 000 Jahren lebte, zur Clanmutter, währen alle ihre Zeitgenossinnen (sogar ihre Schwestern) unerwähnt (und unbedankt) bleiben? So, wie es aussieht, scheinen sie alle nicht im heutigen Mitochondrien-DNS-Befund auf - zählen sie nicht zu unseren Vorfahren?

Vorschnelle Antwort: Ihre Nachkommen haben dem einzeitlichen Überlebenskampf nicht standgehalten und starben schließlich aus? Eine Erklärung dieser Art scheint in manchen populären Pressemeldungen suggeriert zu werden. Um herauszufinden, wie es sich wirklich verhält, nehmen wir zunächst das Vernünftigste an, nämlich dass nichts dergleichen geschehen ist. Auch Evas (oder Ursulas) Zeitgenossinnen haben Kinder bekommen, und die meisten dieser Frauen zählen zu unseren Vorfahren. Unsere (Zellkern-)Gene, die durch die sexuelle Fortpflanzung ständig vermischt werden, haben wir von diesen frühen Generationen geerbt. Verfolgen wir die mütterlichen und väterlichen Erblinien der heutigen Menschen zurück, so nehmen Eva und Ursula keine besonders privilegierte Stellung ein.

Der entscheidende Punkt liegt darin, dass Eva und Ursula ihre Stellung der Zurückverfolgung rein maternaler Erblinien verdanken. Um die Bedeutung dieser Einschränkung zu vestehen, betrachten wir eine beliebige Zeitgenossin Evas oder Ursulas, oder irgendeine andere Frau, die irgendwann gelebt hat - wir nennen sie Alice - und analysieren die Situation nicht, wie oben, indem wir maternale Linien zurückverfolgen, sondern von Alices' Standpunkt, indem wir über ihre Nachkommen Buch führen: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird Alice eine Clanmutter? Genauer:

Frage: Mit welcher Wahrscheinlichkeit geht von Alice eine ununterbrochene maternale Erblinie aus, die bei zumindest einem heute lebenden Menschen endet? Ist diese Wahrscheinlichkeit sehr klein, so wäre erklärt, warum Frauen vom Typ Eva und Ursula sehr selten sind.
 

Ein einfaches Modell für Alice

Da wir den Verwandtschaftsgraphen der Menschheit nicht kennen, können wir diese Frage nur im Rahmen vereinfachter Modelle beantworten, aber wichtig ist das Prinzip, das uns nun zu dieser Antwort führen wird. Nehmen wir an, jeder Mensch (der ins fortpflanzungsfähige Alter gelangt) bekäme genau 2 Kinder, die (mit gleicher Wahrscheinlichkeit) eine Tochter oder ein Sohn sein können, wiederum (je 2) Kinder bekommen, usw. In diesem Modell stagniert die Bevölkerungszahl, aber das soll uns nicht stören. Die Population sei lediglich groß genug, damit sich diese Paarungsarithmetik immer ausgeht.

Hier liegt ein klarer Fall für einen Graphen vor - genauer: für einen binären Baum, der Alices' Nachkommen darstellt. Das linke Diagramm zeigt einen solchen Baum:

Die Söhne stiften keine maternalen Erblinien, interessieren uns also nicht weiter. Daher wird jede Kante, die zu einem Sohn führt, grau eingefärbt. Das ist im rechten Diagramm dargestellt. Eine maternale Erblinie, ist ein von Alice absteigender roter Kantenzug (wobei wir die in Söhnen endenden Kanten nicht mitzählen, auch wenn sie die Schlusssteine maternaler Erblinien bilden). Wir sehen, warum Alice in diesem Beispiel bereits eine Generation später keine Clanmutter mehr ist: Obwohl ihre Nachkommenschaft exponentiell anwächst, gibt es keine rote Linie, die bis in die jüngste eingezeichnete Generation reicht. Schon dieses Diagramm (in dem die Frauen sogar überwiegen) lässt vermuten, dass lange maternale Erblinien gar nicht so häufig auftreten, wie man vielleicht intuitiv vermuten würde.

Denken wir uns einen solchen Baum beliebig weiter fortgesetzt. Jede Kante ist (unabhängig von allen anderen Kanten) mit gleicher Wahrscheinlichkeit rot oder grau eingefärbt. (Wir könnten die grauen und alle von ihnen absteigenden Kanten auch einfach aus dem Graphen entfernen, aber die obige Darstellung gibt die Situation am klarsten wieder). Ein solcher Zufallsprozess heißt Galton-Watson-Prozess, und seine Eigenschaften stellen den Schlüssel für die Lösung unseres Problems dar: Für jede natürliche Zahl j ist die Wahrscheinlichkeit, mit der es eine rote Linie bis in die j-te Generation gibt (wobei Alice die nullte Generation bildet), wohldefiniert. Wir bezeichnen sie mit wj .

Es gibt keinen einfachen geschlossenen Ausdruck für wj, aber wir können eine Rekursionsformel für diese Größe herleiten. Die Art, wie wir das machen, ist ein schönes Beispiel für elegante mathematische Argumentation: Zunächst bemerken wir, dass von Alices' beiden Kindern je ein Graph ausgeht, der die gleiche Struktur hat wie der gesamte Baum. Falls Alice eine Tochter hat (wie im obigen Beispiel), so ist die Wahrscheilichkeit, dass eine rote Linie von dieser Tochter bis in die j-te Generation reicht, genau wj-1. Wir müssen daher nur die drei Möglichkeiten der Geschlechterverteilung unter Alices Kindern (keine, eine oder zwei Töchter) mit den Wahrscheinlichkeiten, dass es von den Töchtern aus weitergeht, gewichten. Für die Fälle keiner und einer Tochter (was mit den Wahrscheinlichkeiten 1/4 und 1/2 auftritt) wissen wir bereits alles nötige. Falls Alice zwei Töchter hat (was mit der Wahrscheinlichkeit 1/4 auftritt), ist die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest eine von ihnen eine bis in die j-te Generation reichende rote Linie besitzt, genau 1 - (1 - wj-1)2 (Gegenwahrscheinlichkeit der Gegenwahrscheinlichkeiten!) Damit ergibt sich

wj   =   (1/4) × 0 + (1/2) × wj-1 + (1/4) × ( 1 - (1 - wj-1)2 ) ,   (1)

oder, nach Ausmultiplizieren,

wj   =   wj- -     1 

  wj-12 ,
4
  (2)

was zusammen mit dem Anfangswert w0 = 1 eine rekursiv definierte Folge darstellt. Überprüfen wir die erste Iteration: Als Wahrscheinlichkeit für Alice, eine rote Linie bis in die erste Generation zu besitzen, ergibt sich w1 = 3/4 (was mit der Wahrscheinlichkeit übereinstimmt, dass Alice mindestens eine Tochter hat).

Aus (2) folgt unmittelbar, dass die Folge wj monoton abnimmt. Da andererseits wj ³ 0 ist, besitzt sie einen Grenzwert, und indem wj und wj-1 in (2) durch diesen ersetzt werden, ergibt sich eine quadratische Gleichung, die nur 0 als Lösung hat. Es handelt sich daher um eine Nullfolge. Um ihr asymptotisches Verhalten zu bestimmen, setzen wir wj = 1/uj, wobei uj divergiert. In (2) eingesetzt, ergibt sich eine Rekursionsformel für uj, deren rechte Seite für große uj-1 entwickelt werden kann. Werden nur die ersten beiden Ordnungen beibehalten, so ergibt sich uj = uj-1 + 1/4 + O(1/uj-1). Für große j beschreibt dies ein lineares Wachstum: uj » j/4, woraus wir auf wj » 4/j schließen. Das ist das gesuchte asymptotische Verhalten.

Für Alice ist es also ziemlich unwahrscheinlich, an der Spitze einer langen maternaten Erblinie zu stehen. Hat Alice vor 1000 Generationen gelebt, so wird es mit der Wahrscheinlichkeit 0.004 eine solche Linie geben, die bis heute reicht - selbst wenn Alices' Nachkommenschaft genauso reich ist wie jene ihrer Konkurrentinnen.

Eine interessante Frage ergibt sich, wenn wir den obigen Graphen noch einmal betrachten: Im verwendeten Modell ist die Bevölkerungszahl konstant, aber die Anzahl der Ecken nimmt nach unten hin exponentiell zu. Wie kann diese Diskrepanz ergeklärt werden? Die Antwort ist, dass verschiedene Ecken ein- und dasselbe Individuum darstellen können. Genau genommen wird dann die Verteilung der Töchter und Söhne im obigen Graphen nicht für jedes Individuum separat gewürfelt. Dennoch ist die Argumentation, die zu (2) geführt hat, korrekt, da in den maternalen Erblinien, die von Alice ausgehen, jedes Individuum höchstens einmal vorkommt, und die anderen Erblinien interessieren uns nicht. Wenn die grauen und alle von ihnen absteigenden Kanten einfach aus dem Graphen entfernt werden, bleibt nicht viel übrig (linkes Diagramm):


Auch das rechte Diagramm, in dem die blauen Kanten den vollständigen mitochondriale Erbgang dargestellen (sie reichen auch bis zu den Söhnen, enden aber dort), sieht nicht viel reichhaltiger aus. In der letzten (vierten) Generation darf gerade mal eine Gruppe von zwei Männern Alice als ihre Clanmutter betrachten. Die maternalen Erblinien sind also dünn gesät. Fragen wir ganz allgemein: Wie viele Individuen der j-ten Generation, die mit Alice durch eine maternale Erblinie verbunden sich, dürfen wir erwarten? Nennen wir diesen Erwartungswert mj, so zeigt eine ähnliche Argumentation wie jene, die auf (2) geführt hat, dass mj = mj-1 für j ³ 2 mit Anfangswert m1 = 2. Daraus folgt unmittelbar, dass mj = 2 für alle j ³ 1 ist. Es gibt im Mittel (d.h. wenn dieser Prozess oft durchgespielt wird) in jeder Generation nur zwei Individuen, die maternal mit Alice verbunden sind, und daher nur eine Frau, für die das gilt. Daraus können wir abschätzen, wie groß ein typischer heutiger maternaler Alice-Clan ist: Bezeichnen wir die typische Clangröße mit n, so wird es im Mittel nwj maternale Alice-Nachfahren geben. Das ist aber, wie zuvor argumentiert, gerade 2, und daher gilt nwj = 2. Ist j groß, so ist wj » 4/j, und wir schließen n » j/2. Die typische Größe des maternal auf Alice zurückgehenden Clans ist - unter der Voraussetzung, dass es überhaupt einen gibt - (in diesem einfachen Modell) halb so groß wie die Anzahl der Generation, die uns von ihr trennen.

Urmutter oder Clanmutter zu sein ist also tatsächlich so etwas wie ein Lotteriegewinn. Wer insgesamt mehr Nachkommen hat, erhöht natürlich die Chance auf diesen Gewinn, aber der Hauptmechanismus für die Seltenheit der Evas und Ursulas ist die Seltenheit, mit der sich die roten Kanten in einem Galton-Watson-Baum zu ununterbrochenen Linien zusammenschließen. Wir können getrost auch die meisten von Evas und Ursulas Zeitgenossinnen zu unseren Vorfahren zählen. (Eine numerisch genauere Begründung dafür werden wir ganz unten nachliefern).

So klein die Wahrscheinlichkeit für Alice auch sein mag, durch eine maternale Erblinie mit der Gegenwart verbunden zu sein - zumindest eine solche Linie muss es in jeder Generation geben, denn maternale Erblinien können aufsteigend beliebig lange verfolgt werden. Je weiter wir in die Vergangenheit schreiten, umso weniger dieser Linien gibt es, bis sie sich schließlich in Eva alle vereinen. In den Generationen vor Eva gibt es eine einzige maternale Erblinie, die aufsteigend zum Homo erectus führt und sich schließlich im Tierreich verliert. Damit wird ein anderer Aspekt beleuchtet, der in populären Aufsätzen ein bisschen untergeht: Eva stand nicht unbedingt ganz am Anfang - unsere Vorfahren können schon einige Zeit als Art existiert haben, bevor sie geboren wurde. Allerdings waren sie damals noch nicht über die ganze Erde verstreut. Da in Eva alle von heutigen Menschen ausgehenden maternalen Linien zusammenlaufen, war sie ziemlich sicher Afrikanerin.
 

Ein verbessertes Modell für Alice (und Ursula)

Das bisher betrachtete Modell ist ein bisschen zu einfach, um realistische Größenordnungen zu reproduzieren, da wir eine stagnierende Bevälkerungszahl angenommen haben. Eine etwas genaueres Modell ergibt sich, wenn jeder Mensch (der ins fortpflanzungsfähige Alter gelangt) im Durchschnitt 2r Kinder bekommt, die wiederum (je 2r) Kinder bekommen, usw. Wir nehmen weiters an, dass r > 1 ist, so dass die Bevölkerungszahl exponentiell anwächst. (Dieses Modell fällt ebenfalls in die Klasse der Galton-Watson-Prozesse, d.h. des zufälligen Aufbaus eines Baumes). Das oben betrachtete Modell entspricht dem Fall r = 1. Der Baum, der Alices Nachkommen nun beschreibt, wird klarerweise mehr binär sein, sondern Ecken höheren Grades als 3 enthalten. Ist r nicht ganzzahlig, so wird der Baum nur im Durchschnitt regelmäßig sein.

Mit einer ähnlichen Argumentation wie oben kann argumentiert werden, dass

wj   =   1  -  ( 1  -     wj-1 

 )   2r
2  
  (3)

mit Anfangswert w0 = 1 ist. Nun bestehen bessere Chancen auf ununterbrochene maternale Erblinien, da es mehr Nachkommen gibt. Die Folge wj konvergiert gegen einen Wert w¥ ¹ 0, der nur von r abhängt. Er ist die Lösung der Gleichung, die entsteht, wenn wj und wj-1 in (3) durch w¥ ersetzt werden. Ist r nur ein wenig größer als 1, so ergibt eine Näherungsberechnung, deren Details wir uns hier schenken, dass w¥ »  4(r - 1) ist. Für r - 1 < 0.01 stimmt sie recht genau, und für j > 1/(4(r - 1)) liegt wj schon sehr nahe bei diesem Grenzwert. (Übungsaufgabe: Leiten Sie diese Resultate her!)

Wie im obigen einfacheren Modell können wir den Erwartungswert mj der Anzahl an Individuen der j-ten Generation, die mit Alice durch eine maternale Erblinie verbunden sind, berechnen. Es ergibt sich das inerative System mj = r mj-1 mit Anfangswert m1 = 2r und Lösung mj = 2r j. Diese Größe wächst also ebenso schnell (exponentiell) wie die gesamte Population. Das erklärt, warum Alices Chancen auf maternale Erblinien steigen. Genau wie oben kann die typische Größe n eines heutigen Clans maternaler Alice-Nachfahren berechnet werden. Es ergibt sich n = 2r j/wj oder, sofern j > 1/(4(r - 1)) ist, näherungsweise

n   »     r j 

   .  
2(r - 1)
  (4)

Also auch die typische Clangröße wächst exponentiell.

Nun können wir unser Modell mit der Wirklichkeit konfrontieren und eine grobe Überschlagsrechnung machen. Von den in (4) enthaltenen Größen ist r am schlechtesten bekannt. Sehen wir uns an, ob sich aus (4) eine realistische Größenordnung ergibt. Betrachten wir Ursula, die vor ungefähr 45 000 Jahren, also j » 2250 Generationen gelebt hat. Zu ihrem Clan gehören elf Prozent der europäischen Bevölkerung. Lassen wir die Bevölkerungsentwicklung der neueren Geschichte außer Acht und gehen um tausend Jahre zurück, so entspricht das n » 2 Millionen. Um r aus (4) zu bestimmen, fassen wir die rechte Seite von (4) als Funktion von r auf und plotten sie. Hier zwei Plots mit verschiedenen Bereichen von r :



Da in beiden Bereichen j > 1/(4(r - 1)) gilt, ist die Anwendung von Formel
(4) als gute Näherung für die Clangröße gerechtfertigt. Im linken Plot kommen die Funktionswerte nicht an die gewünschten 2 Millionen heran, aber dafür wird eine andere interessante Eigenschaft sichtbar: es gibt ein Minimum für die Clangröße (das hier bei etwa 3000 Individuen liegt). Kleinere Clans sind zwar rein theoretisch denkbar, haben aber offensichtlich "das Maß null". (Zum Vergleich: im obigen statischen Bevölkerungsmodell r = 1 wäre die Clangröße j/2, d.h. etwas über 1000, also viel zu klein). Dem rechten Plot entnehmen wir, dass r » 1.0043 die gewünsche Clangröße von 2 Millionen reproduziert. Dieser Wert passt ganz gut mit dem aus anderen Quellen abgeschätzten Bevölkerungswachstum während des eiszeitlichen Europa zusammen. Wir dürfen aber die in ihm steckenden Unsicherheiten nicht vergessen:
  • Formel (4) stellt eine "typische" Clangröße dar, also einen Mittelwert aus vielen "Durchgängen" des gesamten Prozesses. Die zugrunde liegende Verteilung besitzt eine erhebliche Schwankung, die von der großen Rolle des Zufalls im Galton-Watson-Prozess herrührt. Tatsächlich führt dieser Zufall dazu, dass die Wachstumsrate eines Clans von jener der Gesamtbevölkerung abweichen kann, die Größe r in (4) also nicht ganz einheitlich ist (davon abgesehen, dass sie zwischen lokalen Populationen variieren kann).
  • Werden die anderen europäischen Clans analysiert, so zeigen sich diese Schwankungen. Besonders hervorstechend ist der Clan der maternalen Nachfahren von Helena, die vor 20 000 Jahren lebte. Er umfasst etwa 47% der europäischen Bevölkerung und muss für sich genommen die sehr hohe Wachstumsrate von r » 1.005 gehabt haben.

Die einzigen Daten, die wir verwendet haben, um zur Abschätzung r » 1.0043 zu gelangen, sind Ursulas Alter und die Größe ihres heutigen Clans. Beides ist mit Hilfe rein genetischer Methoden ermittelt worden. Was wir also soeben gefunden haben, ist eine von anthropologischen und archäologischen Methoden unabhängige Berechnung der Größenordnung des frühen Bevölkerungswachstums - wieder ein erstaunliches Resultat!
 

Eva und ihre Zeitgenossen

Wir benutzen nun das soeben aufgestellte verbesserte Modell, um auch etwas über Eva zu sagen. Insbesondere werden wir eine Begründung dafür finden, warum die Menschheit zu Evas Zeiten kleiner war als man vielleicht annehmen möchte.

In Eva laufen alle maternalen Erblinien der heutigen Menschen zusammen. Wie oben berechnet, ist für jede beliebige Frau die Wahrscheinlichkeit, eine j Generationen ununterbrochene maternale Linie zu besitzen, (für große j) durch w¥ »  4(r - 1) gegeben. Im Mittel sind also in einer frühen Generation (g/2) × w¥ solcher Frauen zu erwarten, wobei g die Gesamtgröße der damaligen Population bezeichnet. Schreiten wir in die Vergangenheit zurück, so wird diese (theoretische) Zahl immer kleiner, bis sie schließlich die Größenordnung 1 erreicht. Eva kann nicht nach dieser Zeit gelebt haben (sonst könnte sie nicht die einzige derartige Frau ihrer Generation sein). Wahrscheinlich hat sie ungefähr zu dieser Zeit gelebt. Die Eva-Bedingung lautet also

2 g (r - 1)  »  1.   (5)

Setzen wir die für sehr frühe Zeiten geschätzte Wachstumsrate r = 1.001 ein, so ergibt sich g » 500. Für den Fall, dass die Wachstumsrate damals noch kleiner war, setzen wir r = 1.0002 ein und erhalten g » 2500.

Um diese numerische Berechnung ein bisschen sorgfältiger zu gestalten, bemerken wir, dass (5) keinen Bezug zu "heute" enthält! Dieser Umstand kann dazu benutzt werden, g und r über die Bevölkerungszahl zu einem früheren Zeitpunkt, als die Wachstumsrate noch einigermaßen konstant war, miteinander zu verbinden: j Generationen nach Eva ist die Bevölkerungszahl nj = g r j. Ist nj bekannt, kann r aus (4) eliminiert werden. Wir betrachten dazu die ersten hunderttausend Jahre nach Eva (j = 5000) und setzen die Bevölkerungszahl n5000 (vor 50 000 Jahren) mit 3 Millionen an. Daraus ergibt sich r = (3×106/g)1/5000, womit die Eva-Bedingung zu

2 g  [ (   3 ×106

)  1/5000  -  1]     »   1   
g  
  (6)

wird. Die (numerisch sehr unsichere) Wachstumsrate scheint in dieser Gleichung nicht mehr auf. Plotten wir den Ausdruck auf der linken Seite als Funktion der einzigen verbliebenen Variable g, so ergibt sich



was bei knappen dreihundert Individuen den Wert 1 annimmt. Daraus wiederum folgt r » 1.0019 (ein Wert, der für die ersten hunderttausend Jahre nicht unplausibel klingt). Trotz der unsicheren Details sind die Größenordnungen relativ robust: die Menschheit war zu Evas Zeiten sehr klein.

Das ist ein bemerkenswertes Resultat. Um die Größe der Menschheit zur Zeit Evas abzuschätzen, war nur ein einziger numerischer Wert nötig: die Wachstumsrate r, wenn Gleichung (5) benutzt wird, oder, wenn mit (6) argumentiert wird, die Zahl der Menschen 5000 Generationen nach Eva (was letztlich ebenfalls auf eine Abschätzung von r hinausläuft). Keine genetischen Daten, sondern lediglich ein bisschen Wahrscheinlichkeitsrechnung und eine Grundvorstellung über das frühe Bevölkerungswachstum waren notwendig, um ein starkes Indiz dafür zu finden, dass die Menschheit zu Lebzeiten Evas nicht viel mehr als einige tausend, möglicherweise aber noch weniger Individuen zählte!
 

Poiniere und die Zeit nach Eva

Machen wir einen Blick in die Zukunft: Wenn die Menschheit noch einige hundertausende Jahre besteht, wird Eva weiterhin die ihr zukommende Rolle spielen. Das kommt in der Beziehung (5) dadurch zum Ausdruck, dass sie sich nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt bezieht. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine später geborene Frau durch die Zufallsgesetzmäßigkeiten des Galton-Watson-Prozesses diese Rolle übernehmen wird, ist extrem klein, zumindest solange die Wachstumsrate r so groß ist wie heute. Ist also Eva für alle Zeiten die Urmutter? Dabei müssen wir ein bisschen aufpassen: Der Begriff der Urmutter bezieht sich immer auf eine Gesamtheit von Individuen, in unserem Fall auf die heute lebenden Menschen. Die Frage nach der jüngsten gemeinsamen maternalen Vorfahrin aller Primaten (Menschenaffen und Menschen) bewegt längst nicht so viele Gemüter! In diesem Sinn kann sich die Urmutterschaft aber relativ schnell ändern. Damit stehen wir vor der Frage nach der Entstehung neuer Populationen und Arten.

Stellen wir uns vor, eine kleine Gruppe von, sagen wir, g = 50 Menschen (25 Männer und 25 Frauen) besiedelt einen fernen Planeten, verliert den Kontakt zur Erde und entwickelt eine eigene Identität. Wenn der genetische Austausch mit dem Rest der Menschheit abreißt, können ihre Nachkommen einige hunderttausend Jahre später sogar zu einer eigenen Art geworden sein. Wer wird dann deren Urmutter sein? Hier bestehen zwei Möglichkeiten:

  • Zunächst ist die jüngste gemeinsame maternale Vorfahrin aller 25 Pionierinnen nicht unbedingt Eva. Wenn beispielsweise alle Pionierinnen dem Helena-Clan angehören, so wird Helena oder eine ihrer maternalen Nachfahrinnen diese Rolle einnehmen.
  • Ist die Wachstumsrate der neuen Population sehr groß, d.h. ist 2g(r - 1) >> 1 (wie es für die heutige Menschheit der Fall ist), so wird wenig Chance bestehen, dass maternale Erblinien aus Mangel an Töchtern unterbrochen werden.
  • Ist r hingegen eher klein, sagen wir r < 1 + 1/(2g) = 1 + 1/100 = 1.01, so wird eines Tages die Eva-Bedingung (5) erfüllt sein, und eine der Frauen dieser fernen Zeiten bekommt die Chance, die einzige maternale Ahnin einer neuen Art zu werden.
  • Spaltet sich die Population alsbald in mehrere Gruppen auf, um sich über ihren Planeten zu verteilen, so wird keine Frau in einer der Gruppen Vorfahrin aller Pionier-Abkömmlinge sein können. Ihre jüngste gemeinsame maternale Ahnin ist damit in gewisser Weise "fixiert" - und genau das gilt ja auch für Eva, die vor der Auswanderung von (vermutlich kleinen) Gruppen aus Afrika gelebt haben muss. Ist die Isolation der Gruppen allerdings vollkommen und dauert sehr lange, so wird sich die aufgespaltete Population in mehrere Arten ausdifferenzieren, und jede mag sich fortan nur für ihre Urmutter interessieren, und so wiederholt sich die Geschichte...

Aus diesen Überlegungen können wir Einiges über den Charakter der Urmutterschaft und der Eva-Bedingung lernen. Zwei Mechanismen wirken in die gleiche Richtung:

  • Je kleiner die Pionierguppe, umso größer ist die Aussicht auf eine baldige Eva-Nachfolge. Pionier-Populationen bilden oft einen "Flaschenhals" von nur wenigen Individuen. (Ein ähnlicher Effekt tritt ein, wenn eine Population dezimiert wird und dem Aussterben knapp entgeht. Wie wir gesehen haben, scheint es den Geparden so gegangen zu sein).
  • Eine kleine Wachstumrate begünstigt das Abreißen maternaler Erblinien. Erinnern wir uns an das einfache Modell einer konstanten Bevölkerungszahl (r = 1), das wir oben betrachtet haben: In diesem Extremfall strebt für jede Frau die Wahrscheinlichkeit, eine lange maternale Erblinie in die Zukunft zu besitzen, mit wachsender Länge der Linie gegen null. In einem solchen Modell erwarten wir das Auftreten einer Reihe von Frauen, die zu unregelmäßigen (durch den Galton-Watson-Zufall bestimmten) Zeitpunkten die jeweils bisherige Urmutter beerben.

Die Zeit, vor der die jüngste maternale Vorfahrin einer Gruppe von Individuen gelebt hat, ist in gewisser Hinsicht vergleichbar mit dem "Ereignishorizont" in der Kosmologie. Sie gibt an, wie weit die maternale Abstammung zurückverfolgt werden kann, bevor sich alles in einer einzigen Linie verliert - nicht mehr und nicht weniger. Der Begriffe der "Urmutter" und der "Clanmutter" leisten gute Dienste, wenn es darum geht, unsere Vorgeschichte aufzuklären, und wenn den Missverständnissen, die sie nahelegen, widerstanden wird.
 

Adam

Motiviert durch die Tatsache, dass Mitochondien-DNS immer von der Mutter vererbt wird, haben wir uns nun ausführlich mit maternalen Erblinien beschäftigt. Wir hätten theoretisch auch paternale Erblinien analysieren können und wären zu den selben Ergebnissen gelangt. Die aufsteigenden väterlichen Linien neigen ebenso wie die mütterlichen dazu, sich zusehends zu vereinigen und in ferner Vergangenheit auf wenige Personen zu reduzieren - den Clanvätern, an deren Spitze Adam steht. Paternale Clans sind ebensolche Zufallsprodukte eines Galton-Watson-Prozesses wie maternale, so dass wir die obige Analyse genau übernehmen können. Klar ist auch, dass Adams Zeitgenossen, von denen heute niemand paternal abstammt, dennoch zu unseren Vorfahren zählen, dass die maternalen sich nicht mit den paternalen Clans decken und dass Adam nicht Evas Gefährte war.

Was fehlt, ist eine genetische Einheit, die nur in der männlichen Linie vererbt wird. Diese gibt es tatsächlich: das Y-Chromosom, das vom Vater auf den Sohn übertragen wird (während Frauen es überhaupt nicht besitzen, sondern statt dessen ein zweites X-Chromosomen haben). Y-Chromosomen sind komplexer aufgebaut und schwieriger zu sequenzieren als die mitochondrialen DNS-Ringe, und daher hat es länger gedauert, Bereiche in ihnen auszumachen, die die Rolle der Mitochondrien-Kontrollregion übernehmen können. Seit einigen Jahren ist es aber dennoch gelungen, und mittlerweile liegt eine wachsende Menge von Daten über die paternale Abstammungsgeschichte vor. Es ist keine Überraschung, dass deren Charakteristika jenen der maternalen Geschichte ähneln. Für Europa wurden bisher 10 paternale Clans identifiziert.

So rundet sich das Bild der "anderen Genetik", in der es keine Rekombination gibt, ab. Maternale und paternale Erblinien, identifiziert über die in Mitochondrien und Y-Chromosomen weitergegebene DNS und die in ihr angesammelten Mutationen, gehören zu den eindrucksvollsten Hilfsmitteln auf der Suche nach unserem Ursprung.
 

Wieviele Nachkommen hat der Mensch?

Um nicht die Vorstellung aufkommen zu lassen, die letzten gemeinsamen Vorfahren aller heute lebenden Menschen hätten vor hunderttausend Jahren gelebt, machen wir zum Abschluss eine interessante Abschätzung. Wir betrachten einen bestimmten Menschen x (zum Beispiel Julius Cäsar), zu dessen Zeit n0 = g Menschen lebten. Bei einer Wachstumsrate r umfasst die j-te Generation nach ihm nj Individuen, wobei nj = r nj-1 ist. Nun fragen wir, wieviele Nachkommen von x - unter der vereinfachten Annahme der Zufallspaarung - in der j-ten Generation leben. (Dabei beschränken wir uns nicht auf maternale oder paternale Abstammungslinien). Gibt es in der j-ten Generation kj und in der (j-1)-ten Generation kj-1 Nachkommen von x, so schätzen wir kj aus kj-1 folgendermaßen ab: Da die relative Häufigkeit der Nachkommen von x in der (j-1)-ten Generation pj-1 = kj-1/nj-1 ist, wird eine Zufallsverbindung mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 - (1 - pj-1)2 zwischen Individuen eingegangen, von denen zumindest ein Partner Nachkomme von x ist. Da es in dieser Generation nj-1/2 Paare gibt und jedes Paar durchschnittlich 2r Kinder hat, erwarten wir in der j-ten Generation ungefähr kj = r nj-1(1 - (1 - pj-1)2) Nachkommen von x. Mit pj = kj/nj entsteht daraus die Rekursionsformel pj = 1 - (1 - pj-1)2, die zusammen mit der Anfangsbedingung p0 = 1/g die gestellte Frage beantwortet. Ihre explitzite Lösung lautet

pj  =  1 - (1 - 1/g)2 j .   (7)

Die relative Häufigkeit der Nachkommen von x in der j-ten Generation nach x hängt nicht von der Wachstumsrate r ab, was die numerische Auswertung erleichtert. Welchen Anteil haben die Nachkommen von x 40 Generationen (als etwa 800 Jahre) später? Setzen wir j = 40, so hängt diese Größe nur mehr von g ab. Hier ein Plot von p40 als Funktion von g:



Die Funktionswerte sind für Populationszahlen kleiner als astronomische 1011 extrem nahe bei 1. Daher ist in diesem Modell nach 40 Generationen praktisch jeder Mensch ein Nachkomme von x!

Die Bedingung der Zufallspaarung ist in großen menschlichen Populationen (wie den Bewohnern eines Kontinents) nur für längere Zeiträume näherungsweise erfüllt. Dafür sorgen schon die gelegentlichen Auswanderer, die sich fern der Heimat niederlassen.

Was allerdings berücksichtigt werden muss, ist, dass nicht jeder Mensch Nachkommen in die Welt setzt. Hat x aber Kinder, und haben diese Kinder wiederum Kinder, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass die gesamte Nachkommenschaft von x ausstirbt, bereits sehr klein.

Dadurch dauert es etwas länger als durch (7) beschrieben, bis die gleiche Wirkung eintritt, aber das Wesentliche dieses Resultats bleibt davon unberührt: Fast jeder heute lebende Mensch kann mit großer Wahrscheinlichkeit Julius Cäsar (der mehrere Kinder hatte) zu seinen Vorfahren zählen! Das gilt sogar für die Nachkommen der amerikanischen Urbevölkerung, und zwar dank der Vermischung mit Europäern ab dem 16. Jahrhundert. Nach demselben Mechanismus ist Konfuzius (von dem berichtet wird, dass er Kinder hatte) ziemlich sicher ein Vorfahr fast aller Asiaten, und jeder dieser Nachfahren, der um das Jahr 1200 n. Chr. nach Afrika gekommen, dort geheiratet und Kinder gezeugt hat, die wieder Kinder hatten, ist heute mit großer Wahrscheinlichkeit Vorfahr praktisch aller heutigen Afrikaner - woraus folgt, dass fast die gesamte Bevölkerung Afrikas höchstwahrscheinlich von Konfuzius abstammt!

Dieser erstaunliche Befund löst übrigens auch das Rätsel vom "Ahnenschwund": Wenn ich 2 Eltern, 4 Großeltern, 8 Urgroßeltern, 16 Ururgroßeltern (allgemein 2 j Ur j-2großeltern) habe, so übersteigen die Glieder diese Folge bald (ab j » 30) die Zahl der lebenden Menschen. Tatsächlich sind viele der in dieser Rechnung als verschieden veranschlagten Vorfahren miteinander identisch. Das Resultat (7) kann so interpretiert werden, dass die Zahl der Vorfahren eines heutigen Menschen vor 40 Generationen einen Großteil der damaligen Bevölkerung ausmachte!

Allerdings sollte dazugesagt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, von einem dieser Ahnen ein bestimmtes ("seltenes") Allel zu erben, sehr klein ist und davon abhängt, wieviele Vererbungswege das Allel innerhalb des Verwandtschaftsgraphen nehmen kann (d.h. welcher Verwandtschaftsgrad zu diesem Ahnen besteht). Daher werden die "Cäsar-Gene" in der europäischen Urbevölkerung häufiger vertreten sein als in der amerikanischen.

Der genetische Austausch zwischen menschlichen Populationen ist - und war - also lebhafter, als man es intuitiv vielleicht annehmen würde. Das erklärt, wieso der menschliche Genpool zu gut durchmischt ist, um die Definition klar abgegrenzter Kategorien ("Rassen") zuzulassen. Auch die "Clans" sind theoretische Konstruktionen, die zwar der Erforschung unserer Geschichte dienen, wohl kaum aber mit "Merkmalen" (außer ein paar Basenabfolgen) in Zusammenhang stehen. Die meisten der ZeitgenossInnen Evas, Adams und Ursulas zählen - soweit sie Kinder hatten - ziemlich sicher zu den Vorfahren aller heute lebenden Menschen. Vom Standpunkt des gesamten Genpools aus betrachtet sind die ununterbrochenen maternalen und paternalen Erblinien, denen diese Individuen ihre Positionen verdanken, bedeutungslos.
 

Weitere Ressourcen

Webseiten:

Bücher:

  • Bryan Sykes, Die sieben Töchter Evas, Bastei Lübbe, 2001
  • Bryan Sykes, Keine Zukunft für Adam, Bastei Lübbe, 2003
  • Luigi Cavalli-Sforza, Gene, Völker, Sprachen, dtv, 1996
  • Steve Olson, Herkunft und Geschichte des Menschen, Berlin Verlag, Berlin, 2003.
  • Spencer Wells, Die Wege der Menschheit, S. Fischer, 2003

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