Viel Gescheites, aber auch viel Unsinn ist seit der "Entdeckung" der "mitochondrialen" (oder afrikanischen) Eva geschrieben und geglaubt worden. Wir wollen uns die Angelegenheit hier vom Standpunkt der Mathematik ansehen und so manches Missverständnis ausräumen. Interessanterweise sind die genetischen Befunde mit etwas Wahrscheinlichkeitsrechnung nachvollziehbar, und es ergeben sich daraus Erkenntnisse über die Größe der Menschheit zu Evas Zeiten und einige grundlegende Mechanismen über die Entstehung neuer Populationen und Arten. Ende der achziger Jahre kam eine neue Methode auf, entwicklungsgeschichtliche Verhältnisse des modernen Menschen aufzuklären: Mitochondrien - die "Kraftwerke" der Zellen - haben zwei besondere Eigenschaften:
Jeder DNS-Ring besteht aus 16 569 Basenpaaren und enthält einen Bereich von ungefähr 500 Basenpaaren, der nicht für Proteine kodiert. Wenn in dieser so genannten "Kontrollregion" durch eine zufällige Mutation ein Basenpaar durch ein anderes ersetzt wird, so bringt das, soweit wir heute wissen, weder Vor- noch Nachteile für den Träger mit sich. (Mutationen in der Kontrollregion sind "selektionsneutral"). Passiert das in der Keimbahn einer Frau, so geht die veränderte Sequenz an ihre Kindern über. Die Töchter übertragen sie wiederum an ihre Kinder, usw.
Mitochondrien-Mutationen
werden also immer entlang der weiblichen Linie weitergegeben. Während
genügend langer Zeiträume können sich mehrere Mutationen
ansammeln, so dass die Sequenz der Kontrollregion sich an immer mehr
Stellen von der ursprünglichen unterscheidet. Auf ein solches Phänomen
sind wir in einem früheren Abschnitt
bereits gestoßen: hier tickt eine "molekulare Uhr".
Da sich die Bedingungen im Inneren einer Zelle kaum ändern, dürfen
wir einen regelmäßigen Gang dieser Uhr erwarten. Im Durchschnitt
tritt in einer weiblichen Erblinie ungefähr alle 10 000
Jahre eine Mutation der Kontrollregion auf -
eine ideale Mutationsrate, um Verwandtschaftsstrukturen zu untersuchen,
die die Geschichte der letzten hundertfünfzigausend Jahre widerspiegeln
(und, nebenbei bemerkt, etwa zehnmal so groß wie der Mutationsrate
von Zellkern-DNS).
Wer ist nun Eva? Sie ist in gewisser Weise die "weibliche Antwort" auf die Frage, wo wir modernen Menschen herkommen. Hat sich unsere Art, Homo sapiens, an verschiedenen Orten aus lokalen Populationen der früheren Menschenart Homo erectus entwickelt? Zählt Homo neanderthalensis zu unseren Ahnen? Die Sequenzierung der Mitochondrien-DNS heutiger Menschen liefert starke Indizien dafür, dass beides nicht der Fall war. Die größte bisher gefundene Differenz zwischen den Kontrollregionen in den Mitochondrien zweier heutiger Menschen beläuft sich auf 14 Unterschiede. Die aus Neandertalerknochen extrahierte DNS weicht hingegen an 26 Stellen von der eines durchschnittlichen heutigen Europäers ab - ein klarer Hinweis darauf, dass sich die Neandertaler-Linie von unserer getrennt hatte, lange bevor Homo sapiens Afrika verließ, und dass später keine Vermischung mehr stattfand. (Ob sie genetisch möglich gewesen wäre, wissen wir nicht, und falls es sie dennoch gegeben hat, muss sie sehr selten gewesen sein). Sehen wir uns nun ein bisschen im Detail an, was uns die Mitochondrien über unsere Vergangenheit erzählen. Nehmen wir eine beliebige Gruppe von Menschen, und fragen wir, woher sie ihre Mitochondrien-DNS haben. Dazu verfolgen wir alle aufsteigenden mütterlichen Erblinien (Mutter, Großmutter mütterlicherseits,...). Nach und nach werden sich diese Linien vereinigen, bis sie schließlich bei einer eindeutig bestimmten Frau zusammenlaufen - der jüngsten gemeinsamen Vorfahrin, mit der die betrachteten Menschen durch eine ununterbrochene weibliche Erblinie bunden sind. Sie ist die jüngste "maternale Vorfahrin", wie der Fachausdruck dafür lautet. Machen wir das mit einem Geschwisterpaar, so ist die jüngste maternale Vorfahrin die (gemeinsame) Mutter. Machen wir das mit der gesamten Menschheit, so ergibt sich ebenfalls eine eindeutig bestimmte Frau. Das ist Eva. Würden wir den Verwandtschaftsgraphen der Menschheit bis in die fernste Vergangenheit kennen, so könnten wir sie problemlos ermitteln. Von ihr stammen wir alle über eine ununterbrochene maternale Erblinie ab. Eva muss zumindest
zwei Töchter gehabt haben (ansonsten wäre sie nicht die jüngste
maternale Vorfahrin). Die Mitochondrien-DNS in den Erblinien, die von
jeder dieser Töcher ausgehen, entwickelten sich fortan getrennt.
Aufgrund der Mutationen, die sich seither in den einzelnen Linien unabhängig
voneinander angesammelt haben, wurde grob anbeschätzt, dass Eva
vor ungefähr 150 000 Jahren gelebt
hat.
Aber nicht nur Eva, auch andere besondere Frauen ("Clanmütter" oder Clangründerinnen) sind auszumachen. Während der letzten zehn Jahre wurde die Mitochondrien-DNS zahlreicher Menschen (vor allem von Europäern, aber auch von etlichen tausend Menschen aus anderen Kontinenten) sequenziert und miteinander verglichen. Daraus ergab sich, dass ungefähr 95% der europäischen "Ureinwohner" in sieben Gruppen ("maternale Clans") zerfallen. Sie wurden aus dem Datenmaterial durch aufwendige Computerberechnungen ermittelt. (Die Hauptschwierigkeit bestand darin, Parallelmutationen, die unabhängig voneinander an denselben DNS-Stellen auftraten, zu identifizieren). Von diesen sieben Frauen dürften fast alle Europäer in maternaler Linie abstammen. Die älteste, Ursula, lebte vor ungefähr 45 000 Jahren, die jüngste, Jasmin, vor 10 000 Jahren. Jene mit dem größten Clan ist Helena, die vor 20 000 Jahren lebte. Innerhalb der Clans gibt es Untergruppen, die sich wiederum auf spätere (durch Mutationen überlieferte) Verzweigungen beziehen. Weltweit wurden bisher 33 maternale Clans identifiziert, und alle ihre Gründerinnen haben Namen bekommen. Um uns vorzustellen, wie es dazu kommt, verfolgen wir die maternalen Erblinien der heute lebenden Menschen (aufsteigend) in die Vergangenheit zurück. Viele werden sich nach wenigen Generationen vereinigen. Je weiter wir zurückschreiten, um so kleiner wird ihre Zahl werden, wie hier schematisch dargestellt: Es werden aber auch die Punkte, an denen die maternalen Erblinien zusammenlaufen, seltener. Sie kennzeichnen Frauen, die wirklich gelebt haben. Die × Symbole im obigen Dragramm stellen die Mitochondrien-Mutationen dar, anhand derer diese Frauen (ungefähr) lokalisiert, ihre maternalen Nachfahren (Clans) bestimmt und ihre Lebenszeiten abgeschätzt werden können. (Anstelle der bisher identifizierten 33 Clanmütter haben wir hier nur zwei eingezeichnet. Auch die Abstände entsprechen nicht den wirklichen Zeiten: Eva und Ursula trennten 5000 Generationen, während Ursula vor etwas mehr als 2000 Generationen lebte). So kommen wir durch rein formale Überlegungen zu dem Schluss: Einige wenige Frauen stehen an den Punkten, an denen die maternalen Erblinien großer Gruppen heutiger Menschen zusammenlaufen. Dabei handelt es sich keineswegs um nutzlose Spekulationen - so wurde durch die Analyse von Mitochondrien-DNS die alte Streitfrage gelöst, ob die Inseln des Pazifik von Asien oder Amerika aus besiedelt wurden - ersteres war der Fall. (Genau genommen gelten diese Untersuchungen nur für die weibliche Erblinie. Nach ihnen wäre es möglich, dass aus Amerika kommende Männer in den pazifischen Raum eingewandert sind. Analoge Untersuchungen an Y-Chromosomen, über die wir weiter unten sprechen werden, lassen aber auch dies als sehr unwahrscheinlich erscheinen). Auch lässt sich aufgrund dieser Untersuchungen quantifizieren, dass die Europäer zu etwa 20% von Einwanderern aus dem Nahen Osten, die (ab etwa 9000 Jahren vor unserer Zeit) die Landwirtschaft mitbrachten, und zu 80% von einzeitlichen Jägern und Sammlern, die schon lange zuvor hier wohnten, abstammen. Ein anderer interessanter Punkt, den die Daten nahelegen, betrifft die Auswanderung von Menschen aus ihrer afrikanischen Heimat vor ungefähr 100 000 Jahren. Es scheint sich nur einer der 13 afrikanischen Clans (jener, dessen Begründerin Lara genannt wurde) daran beteiligt haben. Das spricht dafür, dass es eine sehr kleine Gruppe war, die damals aufbrach, und von der sich die "Ureinwohner" Eurasiens, Ozeanien und Amerikas herleiten. Die Clans decken
sich nicht mit der Einteilung der Menschen in "Stämme",
"Völker" und "Kulturen". So lassen sich beispielsweise
unter den indigenen Einwohnern Amerikas maternale Nachfahren von Xenia
identifizieren, die vor 25 000 Jahren wahrscheinlich
in Europa oder dem westlichen Asien gelebt hat. Alles in allem unterstüzen
die genetischen Daten die Ansicht, dass die Menschheit von Anfang an
eine bunte Mixtur darstellte, die ständig in Bewegung war.
Wie haben wir uns die "Urmutterschaft" Evas vorzustellen? Hier drängt sich ein Problem auf: Was ist das Besondere an Eva? Gleichzeitig mit ihr haben sicher viele andere (hunderte oder tausende) Frauen gelebt und Kinder bekommen. Wieso sind sie nicht auch "Urmütter" geworden? Dasselbe Problem tritt auf, wenn wir uns auf die (besser durch archäologische Funde dokumentierten) Verhältnisse, in denen die europäischen Clanmütter gelebt haben, beziehen. Welcher Mechanismus macht Ursula, die vor 45 000 Jahren lebte, zur Clanmutter, währen alle ihre Zeitgenossinnen (sogar ihre Schwestern) unerwähnt (und unbedankt) bleiben? So, wie es aussieht, scheinen sie alle nicht im heutigen Mitochondrien-DNS-Befund auf - zählen sie nicht zu unseren Vorfahren? Vorschnelle Antwort: Ihre Nachkommen haben dem einzeitlichen Überlebenskampf nicht standgehalten und starben schließlich aus? Eine Erklärung dieser Art scheint in manchen populären Pressemeldungen suggeriert zu werden. Um herauszufinden, wie es sich wirklich verhält, nehmen wir zunächst das Vernünftigste an, nämlich dass nichts dergleichen geschehen ist. Auch Evas (oder Ursulas) Zeitgenossinnen haben Kinder bekommen, und die meisten dieser Frauen zählen zu unseren Vorfahren. Unsere (Zellkern-)Gene, die durch die sexuelle Fortpflanzung ständig vermischt werden, haben wir von diesen frühen Generationen geerbt. Verfolgen wir die mütterlichen und väterlichen Erblinien der heutigen Menschen zurück, so nehmen Eva und Ursula keine besonders privilegierte Stellung ein. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass Eva und Ursula ihre Stellung der Zurückverfolgung rein maternaler Erblinien verdanken. Um die Bedeutung dieser Einschränkung zu vestehen, betrachten wir eine beliebige Zeitgenossin Evas oder Ursulas, oder irgendeine andere Frau, die irgendwann gelebt hat - wir nennen sie Alice - und analysieren die Situation nicht, wie oben, indem wir maternale Linien zurückverfolgen, sondern von Alices' Standpunkt, indem wir über ihre Nachkommen Buch führen: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird Alice eine Clanmutter? Genauer: Frage: Mit
welcher Wahrscheinlichkeit geht von Alice eine ununterbrochene maternale
Erblinie aus, die bei zumindest einem heute lebenden Menschen endet?
Ist diese Wahrscheinlichkeit sehr klein, so wäre erklärt,
warum Frauen vom Typ Eva und Ursula sehr selten sind.
Da wir den Verwandtschaftsgraphen der Menschheit nicht kennen, können wir diese Frage nur im Rahmen vereinfachter Modelle beantworten, aber wichtig ist das Prinzip, das uns nun zu dieser Antwort führen wird. Nehmen wir an, jeder Mensch (der ins fortpflanzungsfähige Alter gelangt) bekäme genau 2 Kinder, die (mit gleicher Wahrscheinlichkeit) eine Tochter oder ein Sohn sein können, wiederum (je 2) Kinder bekommen, usw. In diesem Modell stagniert die Bevölkerungszahl, aber das soll uns nicht stören. Die Population sei lediglich groß genug, damit sich diese Paarungsarithmetik immer ausgeht. Hier liegt ein klarer Fall für einen Graphen vor - genauer: für einen binären Baum, der Alices' Nachkommen darstellt. Das linke Diagramm zeigt einen solchen Baum: Die Söhne stiften keine maternalen Erblinien, interessieren uns also nicht weiter. Daher wird jede Kante, die zu einem Sohn führt, grau eingefärbt. Das ist im rechten Diagramm dargestellt. Eine maternale Erblinie, ist ein von Alice absteigender roter Kantenzug (wobei wir die in Söhnen endenden Kanten nicht mitzählen, auch wenn sie die Schlusssteine maternaler Erblinien bilden). Wir sehen, warum Alice in diesem Beispiel bereits eine Generation später keine Clanmutter mehr ist: Obwohl ihre Nachkommenschaft exponentiell anwächst, gibt es keine rote Linie, die bis in die jüngste eingezeichnete Generation reicht. Schon dieses Diagramm (in dem die Frauen sogar überwiegen) lässt vermuten, dass lange maternale Erblinien gar nicht so häufig auftreten, wie man vielleicht intuitiv vermuten würde. Denken wir uns einen solchen Baum beliebig weiter fortgesetzt. Jede Kante ist (unabhängig von allen anderen Kanten) mit gleicher Wahrscheinlichkeit rot oder grau eingefärbt. (Wir könnten die grauen und alle von ihnen absteigenden Kanten auch einfach aus dem Graphen entfernen, aber die obige Darstellung gibt die Situation am klarsten wieder). Ein solcher Zufallsprozess heißt Galton-Watson-Prozess, und seine Eigenschaften stellen den Schlüssel für die Lösung unseres Problems dar: Für jede natürliche Zahl j ist die Wahrscheinlichkeit, mit der es eine rote Linie bis in die j-te Generation gibt (wobei Alice die nullte Generation bildet), wohldefiniert. Wir bezeichnen sie mit wj . Es gibt keinen einfachen geschlossenen Ausdruck für wj, aber wir können eine Rekursionsformel für diese Größe herleiten. Die Art, wie wir das machen, ist ein schönes Beispiel für elegante mathematische Argumentation: Zunächst bemerken wir, dass von Alices' beiden Kindern je ein Graph ausgeht, der die gleiche Struktur hat wie der gesamte Baum. Falls Alice eine Tochter hat (wie im obigen Beispiel), so ist die Wahrscheilichkeit, dass eine rote Linie von dieser Tochter bis in die j-te Generation reicht, genau wj-1. Wir müssen daher nur die drei Möglichkeiten der Geschlechterverteilung unter Alices Kindern (keine, eine oder zwei Töchter) mit den Wahrscheinlichkeiten, dass es von den Töchtern aus weitergeht, gewichten. Für die Fälle keiner und einer Tochter (was mit den Wahrscheinlichkeiten 1/4 und 1/2 auftritt) wissen wir bereits alles nötige. Falls Alice zwei Töchter hat (was mit der Wahrscheinlichkeit 1/4 auftritt), ist die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest eine von ihnen eine bis in die j-te Generation reichende rote Linie besitzt, genau 1 - (1 - wj-1)2 (Gegenwahrscheinlichkeit der Gegenwahrscheinlichkeiten!) Damit ergibt sich
was zusammen mit dem Anfangswert w0 = 1 eine rekursiv definierte Folge darstellt. Überprüfen wir die erste Iteration: Als Wahrscheinlichkeit für Alice, eine rote Linie bis in die erste Generation zu besitzen, ergibt sich w1 = 3/4 (was mit der Wahrscheinlichkeit übereinstimmt, dass Alice mindestens eine Tochter hat). Aus (2) folgt unmittelbar, dass die Folge wj monoton abnimmt. Da andererseits wj ³ 0 ist, besitzt sie einen Grenzwert, und indem wj und wj-1 in (2) durch diesen ersetzt werden, ergibt sich eine quadratische Gleichung, die nur 0 als Lösung hat. Es handelt sich daher um eine Nullfolge. Um ihr asymptotisches Verhalten zu bestimmen, setzen wir wj = 1/uj, wobei uj divergiert. In (2) eingesetzt, ergibt sich eine Rekursionsformel für uj, deren rechte Seite für große uj-1 entwickelt werden kann. Werden nur die ersten beiden Ordnungen beibehalten, so ergibt sich uj = uj-1 + 1/4 + O(1/uj-1). Für große j beschreibt dies ein lineares Wachstum: uj » j/4, woraus wir auf wj » 4/j schließen. Das ist das gesuchte asymptotische Verhalten. Für Alice ist es also ziemlich unwahrscheinlich, an der Spitze einer langen maternaten Erblinie zu stehen. Hat Alice vor 1000 Generationen gelebt, so wird es mit der Wahrscheinlichkeit 0.004 eine solche Linie geben, die bis heute reicht - selbst wenn Alices' Nachkommenschaft genauso reich ist wie jene ihrer Konkurrentinnen.
Urmutter oder Clanmutter zu sein ist also tatsächlich so etwas wie ein Lotteriegewinn. Wer insgesamt mehr Nachkommen hat, erhöht natürlich die Chance auf diesen Gewinn, aber der Hauptmechanismus für die Seltenheit der Evas und Ursulas ist die Seltenheit, mit der sich die roten Kanten in einem Galton-Watson-Baum zu ununterbrochenen Linien zusammenschließen. Wir können getrost auch die meisten von Evas und Ursulas Zeitgenossinnen zu unseren Vorfahren zählen. (Eine numerisch genauere Begründung dafür werden wir ganz unten nachliefern). So klein die Wahrscheinlichkeit
für Alice auch sein mag, durch eine maternale Erblinie mit der
Gegenwart verbunden zu sein - zumindest eine
solche Linie muss es in jeder Generation geben, denn maternale
Erblinien können aufsteigend beliebig lange verfolgt werden. Je
weiter wir in die Vergangenheit schreiten, umso weniger dieser Linien
gibt es, bis sie sich schließlich in Eva alle vereinen. In den
Generationen vor Eva gibt es eine einzige maternale Erblinie,
die aufsteigend zum Homo erectus führt und sich schließlich
im Tierreich verliert. Damit wird ein anderer Aspekt beleuchtet, der
in populären Aufsätzen ein bisschen untergeht: Eva stand nicht
unbedingt ganz am Anfang - unsere Vorfahren
können schon einige Zeit als Art existiert haben, bevor sie geboren
wurde. Allerdings waren sie damals noch nicht über die ganze Erde
verstreut. Da in Eva alle von heutigen Menschen ausgehenden maternalen
Linien zusammenlaufen, war sie ziemlich sicher Afrikanerin.
Das bisher betrachtete Modell ist ein bisschen zu einfach, um realistische Größenordnungen zu reproduzieren, da wir eine stagnierende Bevälkerungszahl angenommen haben. Eine etwas genaueres Modell ergibt sich, wenn jeder Mensch (der ins fortpflanzungsfähige Alter gelangt) im Durchschnitt 2r Kinder bekommt, die wiederum (je 2r) Kinder bekommen, usw. Wir nehmen weiters an, dass r > 1 ist, so dass die Bevölkerungszahl exponentiell anwächst. (Dieses Modell fällt ebenfalls in die Klasse der Galton-Watson-Prozesse, d.h. des zufälligen Aufbaus eines Baumes). Das oben betrachtete Modell entspricht dem Fall r = 1. Der Baum, der Alices Nachkommen nun beschreibt, wird klarerweise mehr binär sein, sondern Ecken höheren Grades als 3 enthalten. Ist r nicht ganzzahlig, so wird der Baum nur im Durchschnitt regelmäßig sein. Mit einer ähnlichen Argumentation wie oben kann argumentiert werden, dass
mit Anfangswert w0 = 1 ist. Nun bestehen bessere Chancen auf ununterbrochene maternale Erblinien, da es mehr Nachkommen gibt. Die Folge wj konvergiert gegen einen Wert w¥ ¹ 0, der nur von r abhängt. Er ist die Lösung der Gleichung, die entsteht, wenn wj und wj-1 in (3) durch w¥ ersetzt werden. Ist r nur ein wenig größer als 1, so ergibt eine Näherungsberechnung, deren Details wir uns hier schenken, dass w¥ » 4(r - 1) ist. Für r - 1 < 0.01 stimmt sie recht genau, und für j > 1/(4(r - 1)) liegt wj schon sehr nahe bei diesem Grenzwert. (Übungsaufgabe: Leiten Sie diese Resultate her!) Wie im obigen einfacheren Modell können wir den Erwartungswert mj der Anzahl an Individuen der j-ten Generation, die mit Alice durch eine maternale Erblinie verbunden sind, berechnen. Es ergibt sich das inerative System mj = r mj-1 mit Anfangswert m1 = 2r und Lösung mj = 2r j. Diese Größe wächst also ebenso schnell (exponentiell) wie die gesamte Population. Das erklärt, warum Alices Chancen auf maternale Erblinien steigen. Genau wie oben kann die typische Größe n eines heutigen Clans maternaler Alice-Nachfahren berechnet werden. Es ergibt sich n = 2r j/wj oder, sofern j > 1/(4(r - 1)) ist, näherungsweise
Also auch die typische Clangröße wächst exponentiell. Nun können wir unser Modell mit der Wirklichkeit konfrontieren und eine grobe Überschlagsrechnung machen. Von den in (4) enthaltenen Größen ist r am schlechtesten bekannt. Sehen wir uns an, ob sich aus (4) eine realistische Größenordnung ergibt. Betrachten wir Ursula, die vor ungefähr 45 000 Jahren, also j » 2250 Generationen gelebt hat. Zu ihrem Clan gehören elf Prozent der europäischen Bevölkerung. Lassen wir die Bevölkerungsentwicklung der neueren Geschichte außer Acht und gehen um tausend Jahre zurück, so entspricht das n » 2 Millionen. Um r aus (4) zu bestimmen, fassen wir die rechte Seite von (4) als Funktion von r auf und plotten sie. Hier zwei Plots mit verschiedenen Bereichen von r : Da in beiden Bereichen j > 1/(4(r - 1)) gilt, ist die Anwendung von Formel (4) als gute Näherung für die Clangröße gerechtfertigt. Im linken Plot kommen die Funktionswerte nicht an die gewünschten 2 Millionen heran, aber dafür wird eine andere interessante Eigenschaft sichtbar: es gibt ein Minimum für die Clangröße (das hier bei etwa 3000 Individuen liegt). Kleinere Clans sind zwar rein theoretisch denkbar, haben aber offensichtlich "das Maß null". (Zum Vergleich: im obigen statischen Bevölkerungsmodell r = 1 wäre die Clangröße j/2, d.h. etwas über 1000, also viel zu klein). Dem rechten Plot entnehmen wir, dass r » 1.0043 die gewünsche Clangröße von 2 Millionen reproduziert. Dieser Wert passt ganz gut mit dem aus anderen Quellen abgeschätzten Bevölkerungswachstum während des eiszeitlichen Europa zusammen. Wir dürfen aber die in ihm steckenden Unsicherheiten nicht vergessen:
Die einzigen
Daten, die wir verwendet haben, um zur Abschätzung r » 1.0043
zu gelangen, sind Ursulas Alter und die Größe ihres heutigen
Clans. Beides ist mit Hilfe rein genetischer Methoden ermittelt worden.
Was wir also soeben gefunden haben, ist eine von anthropologischen und
archäologischen Methoden unabhängige Berechnung der
Größenordnung des frühen Bevölkerungswachstums
- wieder ein erstaunliches Resultat!
Wir benutzen nun das soeben aufgestellte verbesserte Modell, um auch etwas über Eva zu sagen. Insbesondere werden wir eine Begründung dafür finden, warum die Menschheit zu Evas Zeiten kleiner war als man vielleicht annehmen möchte. In Eva laufen alle maternalen Erblinien der heutigen Menschen zusammen. Wie oben berechnet, ist für jede beliebige Frau die Wahrscheinlichkeit, eine j Generationen ununterbrochene maternale Linie zu besitzen, (für große j) durch w¥ » 4(r - 1) gegeben. Im Mittel sind also in einer frühen Generation (g/2) × w¥ solcher Frauen zu erwarten, wobei g die Gesamtgröße der damaligen Population bezeichnet. Schreiten wir in die Vergangenheit zurück, so wird diese (theoretische) Zahl immer kleiner, bis sie schließlich die Größenordnung 1 erreicht. Eva kann nicht nach dieser Zeit gelebt haben (sonst könnte sie nicht die einzige derartige Frau ihrer Generation sein). Wahrscheinlich hat sie ungefähr zu dieser Zeit gelebt. Die Eva-Bedingung lautet also
Setzen wir die für sehr frühe Zeiten geschätzte Wachstumsrate r = 1.001 ein, so ergibt sich g » 500. Für den Fall, dass die Wachstumsrate damals noch kleiner war, setzen wir r = 1.0002 ein und erhalten g » 2500.
Das ist ein
bemerkenswertes Resultat. Um die Größe der Menschheit zur
Zeit Evas abzuschätzen, war nur ein einziger numerischer Wert
nötig: die Wachstumsrate r,
wenn Gleichung (5)
benutzt wird, oder, wenn mit (6)
argumentiert wird, die Zahl der Menschen 5000
Generationen nach Eva (was letztlich ebenfalls auf eine Abschätzung
von r
hinausläuft). Keine genetischen Daten, sondern lediglich ein bisschen
Wahrscheinlichkeitsrechnung und eine Grundvorstellung über das
frühe Bevölkerungswachstum waren notwendig, um ein starkes
Indiz dafür zu finden, dass die Menschheit zu Lebzeiten Evas nicht
viel mehr als einige tausend, möglicherweise aber noch weniger
Individuen zählte!
Machen wir einen Blick in die Zukunft: Wenn die Menschheit noch einige hundertausende Jahre besteht, wird Eva weiterhin die ihr zukommende Rolle spielen. Das kommt in der Beziehung (5) dadurch zum Ausdruck, dass sie sich nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt bezieht. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine später geborene Frau durch die Zufallsgesetzmäßigkeiten des Galton-Watson-Prozesses diese Rolle übernehmen wird, ist extrem klein, zumindest solange die Wachstumsrate r so groß ist wie heute. Ist also Eva für alle Zeiten die Urmutter? Dabei müssen wir ein bisschen aufpassen: Der Begriff der Urmutter bezieht sich immer auf eine Gesamtheit von Individuen, in unserem Fall auf die heute lebenden Menschen. Die Frage nach der jüngsten gemeinsamen maternalen Vorfahrin aller Primaten (Menschenaffen und Menschen) bewegt längst nicht so viele Gemüter! In diesem Sinn kann sich die Urmutterschaft aber relativ schnell ändern. Damit stehen wir vor der Frage nach der Entstehung neuer Populationen und Arten. Stellen wir uns vor, eine kleine Gruppe von, sagen wir, g = 50 Menschen (25 Männer und 25 Frauen) besiedelt einen fernen Planeten, verliert den Kontakt zur Erde und entwickelt eine eigene Identität. Wenn der genetische Austausch mit dem Rest der Menschheit abreißt, können ihre Nachkommen einige hunderttausend Jahre später sogar zu einer eigenen Art geworden sein. Wer wird dann deren Urmutter sein? Hier bestehen zwei Möglichkeiten:
Aus diesen Überlegungen können wir Einiges über den Charakter der Urmutterschaft und der Eva-Bedingung lernen. Zwei Mechanismen wirken in die gleiche Richtung:
Die Zeit, vor der
die jüngste maternale Vorfahrin einer Gruppe von Individuen gelebt
hat, ist in gewisser Hinsicht vergleichbar mit dem "Ereignishorizont"
in der Kosmologie. Sie gibt an, wie weit die maternale Abstammung
zurückverfolgt werden kann, bevor sich alles in einer einzigen
Linie verliert - nicht mehr und nicht weniger.
Der Begriffe der "Urmutter" und der "Clanmutter"
leisten gute Dienste, wenn es darum geht, unsere Vorgeschichte aufzuklären,
und wenn den Missverständnissen, die sie nahelegen, widerstanden
wird.
Motiviert durch die Tatsache, dass Mitochondien-DNS immer von der Mutter vererbt wird, haben wir uns nun ausführlich mit maternalen Erblinien beschäftigt. Wir hätten theoretisch auch paternale Erblinien analysieren können und wären zu den selben Ergebnissen gelangt. Die aufsteigenden väterlichen Linien neigen ebenso wie die mütterlichen dazu, sich zusehends zu vereinigen und in ferner Vergangenheit auf wenige Personen zu reduzieren - den Clanvätern, an deren Spitze Adam steht. Paternale Clans sind ebensolche Zufallsprodukte eines Galton-Watson-Prozesses wie maternale, so dass wir die obige Analyse genau übernehmen können. Klar ist auch, dass Adams Zeitgenossen, von denen heute niemand paternal abstammt, dennoch zu unseren Vorfahren zählen, dass die maternalen sich nicht mit den paternalen Clans decken und dass Adam nicht Evas Gefährte war. Was fehlt, ist eine genetische Einheit, die nur in der männlichen Linie vererbt wird. Diese gibt es tatsächlich: das Y-Chromosom, das vom Vater auf den Sohn übertragen wird (während Frauen es überhaupt nicht besitzen, sondern statt dessen ein zweites X-Chromosomen haben). Y-Chromosomen sind komplexer aufgebaut und schwieriger zu sequenzieren als die mitochondrialen DNS-Ringe, und daher hat es länger gedauert, Bereiche in ihnen auszumachen, die die Rolle der Mitochondrien-Kontrollregion übernehmen können. Seit einigen Jahren ist es aber dennoch gelungen, und mittlerweile liegt eine wachsende Menge von Daten über die paternale Abstammungsgeschichte vor. Es ist keine Überraschung, dass deren Charakteristika jenen der maternalen Geschichte ähneln. Für Europa wurden bisher 10 paternale Clans identifiziert. So rundet sich
das Bild der "anderen Genetik", in der es keine Rekombination
gibt, ab. Maternale und paternale Erblinien, identifiziert über
die in Mitochondrien und Y-Chromosomen weitergegebene DNS und die in
ihr angesammelten Mutationen, gehören zu den eindrucksvollsten
Hilfsmitteln auf der Suche nach unserem Ursprung.
Um nicht die Vorstellung aufkommen zu lassen, die letzten gemeinsamen Vorfahren aller heute lebenden Menschen hätten vor hunderttausend Jahren gelebt, machen wir zum Abschluss eine interessante Abschätzung. Wir betrachten einen bestimmten Menschen x (zum Beispiel Julius Cäsar), zu dessen Zeit n0 = g Menschen lebten. Bei einer Wachstumsrate r umfasst die j-te Generation nach ihm nj Individuen, wobei nj = r nj-1 ist. Nun fragen wir, wieviele Nachkommen von x - unter der vereinfachten Annahme der Zufallspaarung - in der j-ten Generation leben. (Dabei beschränken wir uns nicht auf maternale oder paternale Abstammungslinien). Gibt es in der j-ten Generation kj und in der (j-1)-ten Generation kj-1 Nachkommen von x, so schätzen wir kj aus kj-1 folgendermaßen ab: Da die relative Häufigkeit der Nachkommen von x in der (j-1)-ten Generation pj-1 = kj-1/nj-1 ist, wird eine Zufallsverbindung mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 - (1 - pj-1)2 zwischen Individuen eingegangen, von denen zumindest ein Partner Nachkomme von x ist. Da es in dieser Generation nj-1/2 Paare gibt und jedes Paar durchschnittlich 2r Kinder hat, erwarten wir in der j-ten Generation ungefähr kj = r nj-1(1 - (1 - pj-1)2) Nachkommen von x. Mit pj = kj/nj entsteht daraus die Rekursionsformel pj = 1 - (1 - pj-1)2, die zusammen mit der Anfangsbedingung p0 = 1/g die gestellte Frage beantwortet. Ihre explitzite Lösung lautet
Die relative Häufigkeit der Nachkommen von x in der j-ten Generation nach x hängt nicht von der Wachstumsrate r ab, was die numerische Auswertung erleichtert. Welchen Anteil haben die Nachkommen von x 40 Generationen (als etwa 800 Jahre) später? Setzen wir j = 40, so hängt diese Größe nur mehr von g ab. Hier ein Plot von p40 als Funktion von g: Die Funktionswerte sind für Populationszahlen kleiner als astronomische 1011 extrem nahe bei 1. Daher ist in diesem Modell nach 40 Generationen praktisch jeder Mensch ein Nachkomme von x! Die Bedingung der Zufallspaarung ist in großen menschlichen Populationen (wie den Bewohnern eines Kontinents) nur für längere Zeiträume näherungsweise erfüllt. Dafür sorgen schon die gelegentlichen Auswanderer, die sich fern der Heimat niederlassen.
Dadurch dauert es etwas länger als durch (7) beschrieben, bis die gleiche Wirkung eintritt, aber das Wesentliche dieses Resultats bleibt davon unberührt: Fast jeder heute lebende Mensch kann mit großer Wahrscheinlichkeit Julius Cäsar (der mehrere Kinder hatte) zu seinen Vorfahren zählen! Das gilt sogar für die Nachkommen der amerikanischen Urbevölkerung, und zwar dank der Vermischung mit Europäern ab dem 16. Jahrhundert. Nach demselben Mechanismus ist Konfuzius (von dem berichtet wird, dass er Kinder hatte) ziemlich sicher ein Vorfahr fast aller Asiaten, und jeder dieser Nachfahren, der um das Jahr 1200 n. Chr. nach Afrika gekommen, dort geheiratet und Kinder gezeugt hat, die wieder Kinder hatten, ist heute mit großer Wahrscheinlichkeit Vorfahr praktisch aller heutigen Afrikaner - woraus folgt, dass fast die gesamte Bevölkerung Afrikas höchstwahrscheinlich von Konfuzius abstammt!
Der genetische
Austausch zwischen menschlichen Populationen ist -
und war - also lebhafter, als man es intuitiv
vielleicht annehmen würde. Das erklärt, wieso der menschliche
Genpool zu gut durchmischt ist, um die Definition klar abgegrenzter
Kategorien ("Rassen") zuzulassen. Auch die "Clans"
sind theoretische Konstruktionen, die zwar der Erforschung unserer Geschichte
dienen, wohl kaum aber mit "Merkmalen" (außer ein paar
Basenabfolgen) in Zusammenhang stehen. Die meisten der ZeitgenossInnen
Evas, Adams und Ursulas zählen - soweit
sie Kinder hatten - ziemlich sicher zu den
Vorfahren aller heute lebenden Menschen. Vom Standpunkt des gesamten
Genpools aus betrachtet sind die ununterbrochenen maternalen und paternalen
Erblinien, denen diese Individuen ihre Positionen verdanken, bedeutungslos.
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¬ Bedrohte Arten, das Schicksal von Genen und der Zufall in der Evolution |
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