Takashi SHIMAZAKI:


"Dialog zwischen Religionen";
erschienen in "Ashikabi",
Tokyo, Juli 2000;
ins Dt. übers. von HASHI Hisaki.

I. Philosophie und Aktivität

Herr Dr. Erwin Bader ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, sein Fachgebiet ist "Sozialphilosophie". Die "Sozialphilosophie" in Wien ist ziemlich unterschiedlich von der des allgemein zugänglichen Konzeptes bei uns. Sozialphilosophie als solche läßt sich in Japan in einer Systemtheorie über das Wesen eines Staates oder der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Prof. Bader beschäftigt sich aber auch mit der Friedensbewegung, die auf die Dialogkultur zwischen Religionen bezogen ist. Herr Bader ist dabei selbst ein Aktivist. Er versteht dies als Ausübung interkultureller Beziehungen. Von unserer Sicht aus ist es fast unglaublich, daß es in der universitären Philosophie in Wien ein Fachgebiet für Religion und Frieden gibt.

Auf der Grundlage seines wissenschaftlichen Interesses liest Prof. Bader jetzt an der Universität Wien über: "Christliche Sozialphilosophie - Einführung". Er behandelt darin die Problematik, wie die Philosophie der Wahrheit des Ewigen (philosophia perennis) und das Denken des Menschen in der Realität vereinigt werden können. (Der Begriff der philosophia perennis stammt von Thomas von Aquin. Dessen Theologie behandelt die metaphysische Wahrheit in einer transzendental-historischen Hinsicht.) Das Interesse Baders ist stets von den beiden Aspekten - sowohl vom theoretischen als auch vom praktischen - geleitet. Der Brennpunkt seines Interesses liegt darin, wie man in der komplexen Struktur der Gesellschaft in unserer Zeit eine humane und soziale Gemeinschaft konstruieren kann. Er leitet derzeit eine Arbeitsgemeinschaft am selben Institut der Universität Wien: "Sozialphilosophie - Aktuelle Probleme der Friedensforschung". Er trägt das Kreuz in seinem beruflichen Alltag. 1) 

Daraus kann man das Engagement Baders ersehen: Auf der Suche nach den Berührungspunkten von Gesellschaft und Menschen orientiert er seine Forschung. Basierend auf seiner sozialphilosophischen und religionsphilosophischen Kenntnis richtet er den Brennpunkt seiner Forschung auf die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft in Europa. Er hat u.a. einen Aufsatz über den Beitritt Österreichs in Europäische Union geschrieben. Sein eigentliches Fachgebiet liegt meinem eigenen sicher nicht nahe. Er war aber einer der ersten, der bei den Philosophen in Wien mit mir einiges ausführlich diskutiert hat. Ich möchte zuerst etwas von der Denk- und Verhaltensweise Prof. Bader in betreff des "Beitritts Österreichs in EU" ? ein sehr aktuelles Problem für Österreicher ? präsentieren. Danach gehe ich in eine ausführliche Reflexion seiner Thesen über Religion und Religionsphilosophie ein.

Zum Beitritt Österreichs in die EU hat Bader ein besonderes Verständnis. Darin zeigt sich sein eigentliches Verhalten als religiöser Friedensaktivist. Nach der Volks- abstimmung des Jahres 1994 hat sich Österreich für den Beitritt in die EU entschlossen. Die Entscheidung trat im darauffolgenden Jahr 1995 in Kraft. Prof. Bader urteilte aber, daß diese Volksabstimmung anläßlich des EU-Beitritts im Hinblick auf die parlamentarische Demokratie der Republik Österreich inkorrekt gewesen sei. Er leitete dagegen Argumente aus dem Verfassungsrecht ab und brachte sie vor dem Verfassungsgerichtshof vor. Er meint: „Das österreichische Volk wurde als Souverän der Entscheidung übergangen, wurde überrumpelt und zu einer Entscheidung überredet.“2)- Es wurde in einem Monat alles entschieden, in welchem der parlamentarische Beschluß für die Volksabstimmung, die Bestimmungen des notwendigen Gesetzes und die Bekanntgabe des Termins der Volksabstimmung gegeben wurden. Bader vertritt die Meinung: "Die Volksabstimmung galt in jenem Fall nicht als das Mittel der Demokratie, sondern als der Weg zur Diktaturpolitik." Er stellt nicht nur die Kürze der Zeit für die Entscheidung, sondern auch folgendes Problem heraus: Das neue Gesetz für den EU-Beitritt verstoße unter Umständen gegen die jetzige Staatsverfassung der Republik Österreich. Außerdem kommt folgende Realität in Erscheinung: Der neue Zustand des EU-Beitritts bringt Änderungen der Grundlage der herkömmlichen Wirtschaft und Politik Österreichs. Daraus kann sich die Umänderung sämtlicher Inhalte der gegenwärtigen Staatsverfassung Österreichs ergeben. Diese Änderung postuliert eine Modifikation und Reform der gegenwärtigen Verfassung. Ein Rückweg zum früheren Zustand sei unmöglich. Die Entscheidung für den EU-Beitritt bedeutete eigentlich eine Revolution im Staatsrecht Österreichs. ? "Ein beträchtlicher Verstoß gegen die Staatsverfassungen, daß dem Souverän eine so wichtige Entscheidung in nur einem Monat abverlangt wurde."*)

Prof. Baders Position gegen den EU-Beitritt hat folgende zwei Gründe:

1. Mit Bezug auf das Verfahren zur endgültigen Volksabstimmung: 

Der voreilige Beschluß war undemokratisch, weil die österreichischen Staatsbürger dadurch mit einem Nachdenkverbot belastet wurden. Prof. Bader führt die Ereignisse der vergangenen Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus an und meint: "Damals wurde das Denkverbot in einer positiv offenen Art ausgeübt. Jetzt ist es in einer negativen Art erschienen." Mit bezug auf die Relevanz der Kritik zitiert er Karl Popper. Abgesehen von Details der Position Poppers kann man sagen: Popper repräsentierte die Notwendigkeit einer offenen, liberalen Gesellschaft. Dabei hat er die These der „falsibility“ aufgestellt. Dies wurde bereits von J. St. Mill vertreten: Die Wahrhaftigkeit einer These wird bestätigt, erst wenn sie sich auf der Basis der Liberalität von mannigfaltigen Kritiken verteidigen kann. Die offene Möglichkeit der Falsifikation sollte einerseits wissenschaftlich und andererseits liberal und demokratisch betrieben werden. Die beiden Aspekte beziehen sich auf die Relevanz der offenen Kritiken.

2. Mit Bezug auf den Inhalt des Konzeptes der EU:

Die EU richtet sich derzeit meistens nach der Möglichkeit der wirtschaftlichen Entwicklung. Darin sind wichtigere Probleme zumeist außer acht gelassen, nämlich: die geistige und moralische Entwicklung der Menschen in der Gesellschaft. Nicht nur das Problem im geistigen Bereich, sondern auch die Problematik der Ökologie und des Umweltschutzes müssen darin enthalten sein. In seinem Buch "Für ein Europa des Geistes" Auf Seite 4 sieht man eine karikaturistische Darstellung: Darin zeigt sich die Struktur der groben Handlung von Kapitalisten, daß sie aufgrund von Opfern von Pflanzen, Tieren und der Umwelt ihre Geldmittel ansammeln. Bader kritisiert den Verfall der Menschen im Materialismus und ihre einheitliche Verehrung des Geldmittels heftig. In Anbetracht dieser Situation sieht er ein weiteres Problem: Der Beitritt in die EU führt die Republik Österreich zum Verlust der politischen Neutralität und forciert den Beitritt zur NATO.

Nun im Januar 1999 war die Entstehung der neue Währung „Euro“ in ganz Europa ein feierlich-aktuelles Thema. Hingegen wurde sie in den Medien Japans kaum aufgenommen. Es gibt wenig Artikel, in denen der Fortgang der EU kritisch in Betracht gezogen wird. Im Buch der "Zukunft Österreich"3) sieht man aber, daß die Kritik gegen die EU potentiell vorhanden ist. Prof. Bader bezeichnet sich selbst alsEU-Skeptiker. Allerdings ist er kein Gegner Europas. (Anm. 2, S. 48.) Er sagt: "Die EU-Skeptiker sind also kritische Denker, die Europa lieben; nur wollen sie nicht blind an die Konstruktionen dieser EU glauben." (Anm. 2, S. 49.)  Der jetzigen EU setzt er ein "Europa des Geistes" entgegen. Repräsentiert wird darin: das Verhalten für die Schätzung des Friedens, der Gerechtigkeit und der geistigen Entwicklung. Zweifellos ist die Tatsache, daß diese Motivation von seinem Glauben an das Christentum ausgegangen ist.

II. Was können die Religionen dazu beitragen?

Was ist die Anschauung Baders, der bei diesen gegenwärtigen politischen Problemen scharfsinnig reagiert? Wir können dies in seinem Aufsatz untersuchen, in dem er die Möglichkeit und Problematik des Dialogs zwischen den Religionen der Welt (Christentum, Buddhismus, Islam u.a.) aus der Position des Friedensaktivisten erläutert. Einerseits wird seine Position auf die Praxis eines Christen orientiert. Andererseits ist seine wissenschaftliche Position im Aufsatz des "Friedensdialogs der Weltreligionen", einem Bericht des internationalen Symposiums an der Universität Wien, entwickelt:

Darin wird der Materialismus - eine dominierende Tendenz in der ganzen gegenwärtigen Welt- aufgezeigt: Die Menschen entfliehen den ernsthaften Fragen der Religion. Die meisten Europäer in der Gegenwart unterliegen der Dominanz des Atheismus. Nicht nur die Menschen, sondern auch Naturwissenschaft und Technik sind von der globalen Struktur der „Konsumenten-Gesellschaft“ bzw. "Herrschaft der Geldmittel" versklavt. Sie fördern eine weitgehende Industrialisierung der ganzen Welt. Mit Bezug auf diesen kritischen Punkt sagt Herr Bader, daß der Ursprung der Religionen der europäischen Kultur genau erforscht werden soll. 4)

Man bekommt den gewissen Eindruck, daß sein Bewußtsein der krisenhaften Situation der ganzen Gesellschaft intensiv und beträchtlich ist. Dabei ist seine grundlegende Stellung bemerkbar: Daß das Rettende aus dieser Problematik eigentlich die Religion ist. Ich muß aufrichtig sagen: Von uns, den gewöhnlichen japanischen Bürgern, ohne bestimmtes Bekenntnis, aus gesehen, ist dieses Vertrauen in die Religion fast unglaublich. Auch wenn einige Leute bei uns mit dem derartigen Vertrauen in die Religion ihre Meinung vertreten, zweifelt man bei uns eher daran, ob und wieweit ihr Glauben für die durchschnittlichen Bürger der allgemeinen Gesellschaft verständlich und reich an Inhalt ist. Aber ich wiederhole: Auf der Universität Wien gibt es Vorlesungen mit jenem religiösen Inhalt, geleitet von Prof. Bader. Kurz: Das katholische Christentum hat in Österreich noch beträchtliche Einflüsse auf die reale Gesellschaft. Ich erlaube mir einen voreiligen Schluß: Wenn Bader den hohen geistigen Inhalt der christlichen Religion hervorhebt, ist dabei nicht nur die Entwicklung der inneren Welt der Seele zum Problem gestellt, sondern das enthält auch folgende Position: "Der Geist vernachlässigt keineswegs die Problematik der materiellen Welt. Der erstere kann die letztere ändern, und zwar in einer vornehmen Art und Weise."

Prof. Bader zitiert folgende Hypothese eines Soziologen: "Gott nimmt Anteil am gesamten Leben der Menschen..." (Anm. 4, S. 20.) [Gerhard Lenski, Religion und Realität, Köln 1967, S. 27] Gemeint ist der Aufbau des Reichs Gottes in der Welt. Unterstützt von diesem Aspekt kam die Motivation des Herrn Bader als christlicher Friedensaktivist zustande. 

Interessanterweise beruft er sich bei der Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft auf Karl Marx, den Revolutionsaktivisten. Natürlich läßt sich die Position Baders von der des Marx als Materialisten und Atheisten unterscheiden. Doch muß man hierzu sagen: Mit Bezug auf das kritische Bewußtsein gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft stünde Herr Bader auf einem gemeinsamen Nenner mit K. Marx. Mit anderen Worten: Eine Religion verschmilzt in die Psyche der Menschen dadurch, daß sie sich mit der Realität der gegebenen Gesellschaft scharf und kritisch befaßt. Die Religion sollte sich mit der Entfremdung der Humanität der ganzen Gesellschaft auseinandersetzen. K. Marx erweiterte seine Besinnung in die Richtung der Kritik am Kapitalismus und dessen Handelswirtschaft. Abgesehen von der umgekehrten Richtung des Aufstrebens der Religionen und des Marxismus kann man folgenden Punkt als einen gemeinsamen Nenner bringen, nämlich: Die scharfe, reflexive Kritik, die offen an der gegenwärtigen Gesellschaft ausgeübt wird.

Nun erinnert mich dies an die Tendenz, die in der ehemaligen Sowjet-Union (Rußland) angesiedelt war: Es ging darum, wie die Religion und der marxistische Sozialismus in Verbindung gesetzt werden könnten. Auf der einen Seite strebte man nach dem Materialismus und dem Atheismus. Auf der anderen Seite pflegte man in der damaligen Sowjet-Union doch die religiöse und mystische Tendenz, die in der volkseigenen Mentalität der Russen üblich ist. Der marxistische Sozialismus machte letzten Endes das Leben der allgemeinen Bürger der ehemaligen Sowjet-Union nicht ganz glücklich. Auf Grund dieser Tatsache kam es zur Folge, daß die Religion und der volkstümliche Glaube doch noch auf der inoffiziellen Ebene gepflegt und bewahrt wurden. 

K.M. Kantor vertritt die Meinung, daß im Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Kommunisten der Marxistische Sozialismus sich in einer Utopie dargeboten hat. Diese Utopie war ähnlich wie die des Christentums. Seiner Ansicht nach hatten die beiden Positionen, Marxismus und das Ur-Christentum, den einheitlichen Zweck, der dahin geht: wie die Menschheit als Ganzes erlöst werden kann. Eine utopische Idee wurde hervorgehoben, und zwar mit dem Ziel der Realisierung der Gleichheit aller Weltbürger. Beide vollzogen die Kritik an der Realität und stellten die Abschaffung des Privatbesitzes und des Organismus des gegebenen Staates als die nach- vollziehbaren Aufgaben. Kantor meint, daß Christentum und Kommunismus beide die Freiheit der ganzen Menschheit als den Endzweck ihrer Tätigkeit bestimmt haben.5)Selbstverständlich muß man sagen, daß diese Stellungnahme ziemlich einseitig ist. Dabei ist der eigentliche Standpunkt des Marxismus als Materialismus und Atheismus absichtlich ausgelassen. Aber mein Interesse liegt hier nicht in der Untersuchung des grundsätzlichen Charakters des Marxismus, sondern es geht darum: Warum konnte sich in der ehemaligen Sowjet-Union jene Tendenz der Dualstruktur von Religion und Sozialismus ergeben? In der japanischen Gesellschaft kann man diese Tatsache kaum für wahr halten. Jedenfalls ist klar: Das Thema der Erlösung der Menschen durch die Religion wurde in jenem Land angesiedelt. Bemerkenswert ist, daß auch der marxistische Sozialismus bzw. Kommunismus im Zusammenhang mit jenem religiösen Aspekt interpretiert wurde. 

III. Die Religion und ihre Selbstkritik

Zurück zum Aufsatz von Prof. Bader! Nach der Anführung des Grundgedankens von Marx meint er, daß die fortlaufende Materialisierung der ganzen Welt eine Zwischenstufe, die im Phänomen der Gesellschaft mittlerweile erscheint. Die Menschheit muß diese Stufe überschreiten. Zum Zweck der weiteren Entwicklung des Weltfriedens ist der Dialog zwischen den Weltreligionen, Christentum, Buddhismus und Islam, postuliert. Bader bestimmt, daß das hauptsächliche Mittel der Stiftung des Weltfriedens in dem „Protest gegen Gewalt“ und dem "Dialog" der Religionen liegt. Allerdings merkt er interessanterweise im voraus an: Nicht alle Religionen können als gleichwertig behandelt werden.
Er verhält sich der sog. New Age Mouvement oder dem Mystizismus, die in den USA u.a. in letzter Zeit aktuell ist, kritisch gegenüber. Der "Mystizismus" entspricht der "Esoterik" im heutigen Deutsch. Es gibt im Buchhandel ein Regal für das Fach Esoterik. Ich habe in Wien etliche spezifische Buchhandelungen für Esoterik gesehen. Der sog. Occultism, Horoskop, Interessen an mystischem Phänomen usw. sind sowohl in Wien als auch in den Großstädten in Japan üblich. Im Buchhandel in Japan gibt es in letzter Zeit das Fach der „Geistigen Welt“, das zwischen Religion, Philosophie, Psychologie u.a. ihr eigenes Regal hat. Dies entspricht der "Esoterik". Vor einigen Jahren war dieses Fach nicht üblich. Im übrigen habe ich einige Geschäfte für esoterische Edelsteine in Wien gesehen: „Eine bestimmte Art von Stein bringt das Glück, wenn man ihn stets bei sich hält“ Sie werden manchmal neben den homöopathischen Mitteln verkauft. Horoskope stehen in den Zeitungen in Wien. Prof. Bader ist der Meinung, daß Fanatismen, zerstörerische Sekten und andere Lehren des der Religion naheliegenden Esoterismus keinesfalls als Religion betrachtet werden dürfen. In der japanischen Gesellschaft kann man diesbezüglich die sog. ÑAum-Sekteì als einen Typus vorstellen.
Wichtig ist, daß Bader zur Religion allgemein eine bestimmte Selbstkritik ausübt. Er sagt: "Die Kritik an den Religionen hat dennoch einige berechtigte sozialphilosophische Argumente für sich." (Anm. 4, S. 22.)  Er ist kein bloßer Christ, sondern auch ein kritisch reflexiver Wissenschaftler. Er stellt die Gegenstände seiner Erfahrung als Objekte seiner Forschung zum Nachvollziehen der wissenschaftlichen Wahrheit. Als ein Universitätslehrer hält er sein Bekenntnis: er ist aber nicht dazu verpflichtet, vom Bekenntnis der eigenen Religion zu bekunden. Der Grund, warum ich ihn schätze und mit ihm diskutieren kann, liegt eben in diesem Punkt.
Hier entsteht das Verhältnis der Religionswissenschaft als Theorie und der Religion als Praxis. Praktiker der Religion müssen aufgrund ihres Bekenntnisses ihre Lehre aktivieren. Aber Religionswissenschaftler müssen zu der Religion eine gewisse Distanz halten. Denn die Erscheinung der Religion ist Gegenstand seiner/ihrer objektiv-wissenschaftlichen Forschung. Wenn auch er/sie an einer bestimmten Lehre der Religion glaubt, ist ihm/ihr postuliert, ein kritisch reflexives Verhalten der Religion gegenüber aufzuweisen. Fukazawa, der Religionswissenschaftler, betont die "Kritische Funktion der Religionswissenschaft".6)Wenn man die Religionskritik in der neuzeitlichen Aufklärung betrachtet, ist klar, daß das Christentum seither die regelmäßige Kritik an sich selbst ausübt und sich dementsprechend verändert. Die Religionswissenschaft muß zugleich den bestimmten Religionen kritisch entgegenstehen. Für Bader besteht eine derartige Aufgabe.
Manche Praktiker der Religionen lassen die Fehler und Übeltaten ihrer eigenen Religion als vergangene Sachen außer acht. Sie verhalten sich als richtige Vertreter und reden nur von den schönen Seiten ihres eigenen Bekenntnisses. Manche andere ohne Bekenntnis können nicht umhin, Religionen zu bezweifeln. Bader repräsentiert demgegenüber die Position: "Der dogmatische Verfall der christlichen Religion führte zum Ausbruch der Religionskriege. Dies muß man aufrichtig bekennen und sich kritisch gegen den Krieg besinnen. Dies ist eben der Ausgangspunkt der Religionswissenschaft. "Der 30jährige Krieg zwischen Katholiken und Protestanten des Anfangs des 17. Jhdts. führte dazu, daß sich die Gesamtbevölkerungszahl in Deutschland von 18.000.000 auf 7.000.000 verringert hat. Bader: "Religionskrieg ist eine fehlgeschlagene Ausübung der Fähigkeit der Religion selbst." (Vgl.Anm. 4,S. 21.) Herr Bader beobachtet aufmerksam die gewaltigen Auseinandersetzungen in Bosnien und Irland: In ihrem Hintergrund bleiben unterschiedliche Religionsbekenntnisse. Er verweist darauf: "Vermutlich ist die Gewaltlosigkeit in irgendeiner Form mit dem Kern aller Religionen überhaupt eng verknüpft. Unter diesem Aspekt werden nicht nur Religionskriege grundsätzlich vermeidbar, sondern die Religionen können wohl als Schutz gegen Kriege aller Art dienen." (Vgl. Anm. 4,S., 25.) Meiner Ansicht nach hat diese ernsthafte Konfrontation, die bei Bader der Fall ist, zum Wiederherstellen und Anerkennen der Religion einen wichtigen Beitrag zu leisten.

IV. Die Rolle und Funktion der Religionen

 

Prof. Bader vertritt in Bezug auf die Rolle und Funktion der Religionen folgende These: Nicht jede Religion erfüllt diese Funktion, doch als Ideal kann man sehen, daß jede einzelne Religion folgende Bedingungen im allgemeinen erfüllen kann:
1. Eine Religion hat einen bedeutenden Anteil an einer Gesellschaft. Die Religion kann die Gesellschaft ändern. (A .a. O., S. 20.)
2. Religion ist dazu fähig, Menschen an Ethik zu wenden. Religion schärft das Gewissen. Der Frieden in der innerpsychischen Welt eines Menschen kann aus der Religion entstehen. (A. a .O., S. 25ff.) 
3. Religion erstrebt die Lösung der Problematik von Leben und Sterben. Nicht nur für das Leben, sondern auch zur Bedeutung des Sterbens sucht die Religion eine positive Antwort.
4. Religion schafft eine Gemeinschaft, in welcher die Menschen ihre seelische Ruhe finden können.

5. Religion schafft die Ehrfurcht an Gegenständen der Erfahrung: z.B. die Ehrfurcht vor dem Leben. 

6. Religion hat in verschiedener Hinsicht die Funktion des Nachvollziehens eines kritischen Geistes. Der kritisch sinnenden Geist richtet sich einerseits selbst- verständlich auf das eigene Ich, andererseits richtet er sich auf andere Menschen, die Gesellschaft und die Politik.

Diese Anhaltspunkte sind mir in betreff der Reflexion über die Religionen reich an Inhalten. Natürlich kann man dazu auch noch fragen: "Was ist Religion?" Erst nach ausreichender Beantwortung dieser wesentlichen Frage kann man einen sinnvollen Dialog mit Religionen führen. Herr Bader hat im Rahmen unseres Gesprächs dieses Problem noch nicht gelöst. Meiner Meinung ist: Wenn das Sein Gottes bzw. das transzendente Absolute als Gegenstand der Verehrung vorausgesetzt ist, muß dieses Wesen des Absoluten in einer positiv-objektivistischen Weise bewiesen werden, was es eigentlich ist. Solange dieser Beweis nicht vollzogen wird, kann man denken, daß religiöses Bewußtsein ein entfremdetes Bewußtsein bzw. das am Vernünftigen entfremdetes System sei. Hier im Rahmen dieses Beitrags möchte ich aber nicht ausschließen, daß Religion das System der bloßen Entfremdung der gedanklichen Objektivität vertritt. Vielmehr bin ich an einem aktiven Dialog mit Religionen orientiert.

Nun, jene sechs Anhaltspunkte können dem Sinn der gegenwärtigen Weltreligionen, dem Christentum, dem Buddhismus und dem Islam entsprechen. Wenn eine sinnvolle Religion existiert, sollte sich auf jene sechs Bedingungen erfüllen. Die wahrhafte Religion sollte sich auf jenen sechs Punkten gründen. Sie strebt nach diesem Ideal. Ich habe den Grundgedanken Baders so interpretiert, daß die Grundgesetze der Religionen in diesem Prototypon dargestellt werden können. 

Im folgenden möchte ich zu jedem einzelnen Punkt meine Gedanken ergänzen:

ad. 1. Man kann in unserer Zeit nicht behaupten, daß Religion ausschließlich den Modus der Veränderung der Gesellschaft einnimmt. Gleichzeitig muß man bemerken, daß die Funktion der Religion nach dem Zusammenbruch des Marxismus wieder zunehmend Bedeutung gewinnt. Der Sozialismus besagt: "Ohne Gewalt besteht keine Revolution." (Vgl. A .a. O., S. 21f.) [An der angegebenen Stelle findet sich folgendes Zitat von Fr. Engels: "Eine Revolution ist ... ein Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen... aufzwingt." Marx-Engels, Ausgew. Schr. in 2 Bdn, Bln 1951,Bd. 1, S. 602.] Diese Art der Revolution ist aber an gewissen Grenzen gescheitert. Jetzt ist die Rolle der Religionen wieder aufgewertet. Die letzteren repräsentieren den Gegensatz der Revolution, nämlich den Verzicht auf jegliche Gewalttat und den daraus resultierenden Frieden. Blickt man nun auf die vergangene Geschichte, ist klar, daß es in der Wende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert in Österreich die Christliche Sozialpartei gab. Karl Lueger, der damalige Bürgermeister der Stadt Wien stammte aus dieser Partei. Er führte verschiedene Reformen für die Stadt durch und fand Zustimmung und Beifall von den Bürgern. Die Behauptung Baders im Punkt 1 hebt sich für Österreich nicht von der Realität ab.

ad 2.Kein Zweifel, daß Religionen die Förderung der Ethik und des moralischen Bewußtseins als das Zentrum ihrer Lehre halten. Am Beispiel des Verzichtes auf Gewalt verbieten Religionen Amoralisches. In der sog. Goldenen Regel ist der Kern der universellen Ethik der Religionen präsentiert. Sie stiften die Grundlage des Weltfriedens. `Realisiere die Maxime deines Willens im Bezugsverhältnis mit den anderen.´: Eine derartige Kategorie kann man im Konfuzianismus u.a. finden.

ad 3.Mit Zitat von Erich Fromm wird hier die Biophilie (Die Liebe zum Leben) herausgestellt: Ein gesunder Mensch hält sich daran fest und bemüht sich, diese Liebe anderen Menschen zu vermitteln. Man beachtet das Lebewesen der Natur. Gegenüber der Liebe zum Leben wird hier auch die Liebe zum Tod erwähnt. (A .a O., S. 26.)Für alle Lebenden in der Welt ist mehr oder minder das Leid an Schwierigkeiten unvermeidlich. Man löst sich von Leid letztendlich ab, erst wenn man die Fatalität des Todes entgegennimmt. Das Problem des Sterbens ist für jeden gleich. Religionen setzten sich mit diesem allgemeinsten Problem auseinander. Die Problematik des Lebens hat erst mit ihrem Gegenstück, dem Problem des Sterbens, Bedeutung.

ad 4. "Ohne Gemeinschaft ist kein Dasein des Menschen denkbar." ( A.a. O., S. 26.) In Wien gibt es überall die kirchliche Gemeinde; der hohe Turm des Stephansdoms ist ein Herzensstück hiervon. Die Gläubigen bilden die Gemeinde. Die religiöse Gemeinde macht eine Basis der Gestaltung einer bürgerlichen Gemeinschaft.

ad5. Die Ehrfurcht darf nicht an jeden beliebigen Gegenstand gerichtet sein. Materielle Gegenstände und das Symbol der Weltlichkeit (Preis, Ruhm und Geldmittel als solche) gelten nicht als Gegenstand der Ehrfurcht, sondern diejenigen, die den Menschen seelische Ruhe geben können. Menschen neigen dazu, etwas bestimmtes zu verehren und Ehrfurcht daran zu üben. Allerdings muß man auf die zweckhafte Propaganda, die im vergangenen Sozialismus der Fall gewesen ist, verzichten. Letztere richtete sich nach der künstlichen Zeugung des Gegenstandes der Verehrung bzw. Ehrfurcht. Anstelle der Propaganda muß die Ehrfurcht vor dem Leben in den Vordergrund kommen.

ad 6. Die kritische Funktion der Religionen ist unentbehrlich. Eindrucksvoll ist, daß bei Bader die Kritik am gegenwärtig Seienden als das hauptsächliche Ziel seiner Bemühung bestimmt ist. Solange das gegenwärtige Seiende nicht mit dem Ideal übereinstimmt, muß die Kritik vollzogen werden. Meiner Ansicht nach gestaltet dieser Punkt einen gemeinsamen Nenner des kritischen Geistes des Sozialismus von Marx und der Christlichen Sozialphilosophie des Herrn Bader. Die Religion neigt im allgemeinen zur bloßen Bejahung der gegenwärtigen Gegebenheit. Als Gegensatz dazu hat die Herausstellung der kritischen Funktion Bedeutung. Die Selbst-Kritik darf nicht auf eine bloße Zurücknahme bzw. Erniedrigung ihrer selbst fallen. In der Nachvollziehung der Selbst-Kritik kann die Religion ein Grundmodus der Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaft werden.

Bader erwähnt, daß das Zentrum der religiösen Praxis im "Gebet" liegt. In diesem Sinne ist die Religion geistig und mystisch. Dies betont er im selben Buch, Seite 28. Mir selbst fällt dieser Punkt am meisten schwer verständlich. Er meint, daß das Beten und Verehren Christi im Herzen der Alltagsaktivität liegen muß. "Ungebunden an einen bestimmten Gott ist das Beten ein Zentrum des geistigen Lebens eines selbstbewußten Menschen. Man kann das Beten als den Höhepunkt der Aktivitäten des menschlichen Geistes wahrnehmen. --- usw."

Wie kann ich mich gegenüber dieser Meinung verhalten? Ich verstehe das Gebet völlig anders: Beten ist ein Aktus, in dem ein einzelner Mensch sein Bewußtsein ausschließlich an eine transzendente Gottheit richtet und dies festhält. In diesem Aktus hält er den Sinn seines Lebens wach. Er kann seine Hoffnung dem transzendenten Wesen (Gott) mitteilen. Der Inhalt des Gebetes läßt sich in realisierbares und nicht realisierbares unterteilen. Die Hoffnung auf die Wiedergeburt eines Toten entspricht dem letzteren. Religion und Gebet können in diesem Fall ihren Sinn voll aufbringen. Allerdings bedeutet die Realisierung dessen eine Wundertat. Dabei ist das Gebet an sich ein Modus, der innerpsychisch gerichtet ist. Es ist aber nicht ein Modus nach außen, der sich nach einer Praxis der Gesellschaft orientiert. Bader nimmt wahrscheinlich, daß die praxisorientierte Aktivität auf den innerpsychischen Aktus des Betens zurückgeführt werden soll. Jedenfalls scheint mir: Beten kann ungebunden an einen bestimmten Gott sein. Wenn das Gebet im Sinne der "Meditation" verstanden werden kann, wäre dies in allen Fällen - sei es bei Theisten oder Atheisten - sinnvoll, da sie Beitrag für die Einheit von Körper und Psyche leisten kann.

Bader erwähnte weiteres zum Dialog der Religionen: Der interkulturelle Charakter gehört dazu. Dieser dient dem Zweck des Austausches der mannigfaltigen Denkweisen von Individuen. Der Dialog bedingt den gegenseitigen Respekt der Teilnehmenden. Die Verletzung des Gesprächspartners in jeglicher Art ist verboten. Die Öffentlichkeit und die Grundregel des Erstrebens der Wahrheit usw. muß ich hier auslassen.

V. Fragen an Prof. Bader 7)

Wie ich seinen Aufsatz fertig gelesen hatte, schrieb ich ihm als meinen Dank meine Mitteilung. Meine Teilnahme an seiner Position hat sich in den vorangegangenen Kapiteln ausreichend gezeigt. Meine damalige Mitteilung war gleichsam wie ein Essay. Er wurde aber in der Zeitschrift "Wiener Blätter zur Friedensforschung" (Bd. 93, Jahrgang 1997) herausgebracht. - Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich ihn noch besser gestaltet! Nun bekenne ich, daß mein damaliger Essay aus meinem Herzen stammte. Dem entsprechend wurde er ohne Änderung erschienen. Im folgenden stelle ich meinen damaligen Gedanken inhaltlich dar:

1.?Ich bin kein Spezialist für Religionswissenschaft bzw. christliche Theologie, doch konnte ich im Ganzen begreifen, was Sie in Ihrem Aufsatz übermittelt haben. Ich bin beeindruckt davon, daß Ihr Aufsatz nicht nur in einer bloßen Theorie abgeschlossen, sondern daß er auch auf Praxis orientiert ist, und zwar in Hinsicht auf die Förderung des Dialogs zwischen den Religionen. Letzteres ist auf die Stiftung des Friedens der Welt gerichtet. Ihr Aufsatz ist im folgenden weiteren Punkt aufschlußreich, welche Beiträge die Religionen in der Geschichte der Menschheit geleistet haben.

2. Im Gespräch haben Sie öfter den "Geist" der Menschheit erwähnt. Ich möchte mir ein weitgehendes Verständnis mit Bezug auf diesen Begriff bilden, da ich mich früher mit diesem Begriff des „Geistes“ in meiner Hegel-Forschung beschäftigt habe. Dieses - bei Hegel als ein Schlüsselbegriff geltende - Konzept ist an sich schwer begreiflich. Nicht nur bei Hegel, sondern auch bei anderen Denkern entstammt dieser Begriff zum Teil der Terminologie christlicher Religion. Meiner Ansicht nach wäre ein entsprechender Terminus des "Geistes" der Philosophie und der Religion des Abendlandes in japanischer Geistesgeschichte: die "Natur". Betrachten wir jetzt eine interkulturelle, gegenseitige Kommunikation, wie läßt sich der Terminus des "Geistes" darstellen?

3. Sie haben die Relevanz des "Dialogs zwischen Religionen" betont. Dieser Aspekt ist an sich nicht neu. Über den Begriff des "Dialogs" habe ich früher eine umfassende Arbeit publiziert; der Titel des Buches heißt: "Philosophie des Dialogs - Diskussion, Rhetorik und Dialektik" (Kouchi-Verlag). Allerdings bin ich mir bewußt, daß die Realisierung eines sinnvollen, erfüllten Dialogs eine schwerwiegende Sache ist. Sie haben diesen Punkt ganz korrekt in folgender Weise in Ihrer Schrift gezeigt: "Zum Anerkennen der eigentlichen Position des/r anderen ist der Respekt der Andersheit unentbehrlich." 

Betrachte ich gerade den Dialog zwischen Christentum und Buddhismus, so zeigen sich die beiden Religionen in einer beträchtlichen Differenz. Buddhismus vertritt die Position, daß die Gleichheit der Würde nicht nur bei jedem Lebewesen anerkannt sein sollte, sondern die sog. Buddha-Natur liegt auch im anorganischen; z.B. sie liegt auch in einem Stein. (Der Spruch des Buddhismus lautet: "Gras, Bäume, Erde, Stein - alle Wesen sind die Natur Buddhas.") Dabei ist zu betonen, daß ein Mensch mit dem Anwesenden der Natur gleich gesetzt wird. In diesem Sinne hat der Mensch keine spezifisch angehobene Bedeutung in der Welt der Natur. Diese Position sollte der Lehre der Bibel (insbesondere die der Genesis des alten Testaments) entgegenstehen. Können die Christen die Position des Buddhismus anerkennen? Meiner Ansicht nach hat das Erkennen des Buddhismus eine besondere Bedeutung, wenn man Ihre These der "Kommunikation von Menschen und ihrer Umwelt" auf Praxis setzt. Letzteres hat mit Ihrer eigentlichen Position, "Ehrfurcht vor der Natur" Zusammenhang. Wie würden Sie einen sinnvollen Dialog mit der buddhistischen Position führen? 

4. "Religion bewegt die Gesellschaft." An sich möchte ich die Rolle der Religion gern anerkennen. Auf der anderer Seite vertreten Sie die Meinung, daß die Kritik an Religion genauso wichtig ist. Besonders wenn man diejenigen, die sich auf kein Bekenntnis beziehen, bedenkt, ist Ihre letztere Position zum Durchführen eines sinnvollen Friedensdialogs eine unentbehrliche Voraussetzung. Religionspraktiker sind zu einer Selbstkritik aufgefordert. Dabei gibt es die beiden polaren Zustände in der gegenwärtigen Welt, nämlich: die religiöse Welt an sich und die bürgerliche Gesellschaft, die seit ihrer Entwicklung der Neuzeit eindeutig etabliert worden ist. Die religiöse Welt als solche hat ihr Zentrum im Bereich der Heiligkeit des Geistigen. Dem entgegengesetzt ist die bürgerliche Gesellschaft; ihr Merkmal ist die Orientierung nach dem Materialismus im weltlichen Leben. Letzteres hat in ihrer Basis die Anerkennung der grundsätzlichen Menschenrechte und der Würde einzelner Individuen. Basierend darauf macht die bürgerliche Gesellschaft eine dynamische Wandlung bzw. Entwicklung im Rahmen ihrer Gesetzgebung durch.

Meiner Ansicht nach muß eine gegenseitige Kritik zwischen den beiden polaren Bereichen, der religiösen Welt des Geistigen und der bürgerlichen Gesellschaft des Weltlichen, ausgeübt werden. Die Vertreter des religiös-geistigen Bereichs sind dazu postuliert, Verständnisse zur positiv geschichtlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zu zeigen. Im Dialog sind sie dazu gefordert, die weltliche Gesellschaft in gewisser Hinsicht ohne Trennung und Ausschließung zu erkennen. Auf der anderen Seite ist die Religion dazu aufgefordert, übermäßige Dominanz des Materialismus, welche die Gier des Menschen nur ausdehnt, warnend in Grenzen zu halten. Die beiden Pole, die religiöse und die bürgerliche Gesellschaft, können nicht auf ihrem bisherigen Grundgedanken ruhen. Der wahrhaft treffliche Dialog begleitet stets ein Risiko der Verletzung.

5. Im Gespräch haben Sie gezeigt, wie mannigfaltig die Rolle der Religionen ist und welche Vorzüge sie begleitet. Mir selbst war es beeindruckend und profitabel. Daß ich jetzt ein besseres Verständnis von der Beziehung der Religion und der Gesellschaft gewinnen konnte, ist Ihr eigentlicher Verdienst! Die Friede in der innerpsychischen Welt, das Problem der Ethik und der Gemeinschaft sowie die Ehrfurcht vor dem Seienden sind für beide Seiten wichtig - sowohl für religiöse als auch für die Menschen ohne Bekenntnis. 

6. Sie haben öfter Mystizismus erwähnt. Über den Inhalt dessen bin ich noch nicht genügend informiert. Sie haben auf der anderen Seite die New Age Mouvement und die Esoterik kritisiert. Die letzteren sind beide im gewissen Sinne eine Art vom Mystizismus. Wie beurteilen Sie die Ausbreitung der oben genannten beiden Strömungen, die in unserer Zeit in der ganzen Welt als aktuell anzusehen ist? Der Grund meiner Fragestellung liegt im folgenden: Die herkömmlichen Groß-Religionen der Welt sind im Rückgang; sie üben immer weniger Einflüsse auf die allgemeine bürgerliche Gesellschaft aus. Im Gegensatz dazu verstärkt sich der Einfluß der neu aufkommenden Religionen, die im eindeutigen Zusammenhang mit der New age Mouvement und der Esoterik immer mehr in den Vordergrund treten: Eines der typischen Beispiele ist die "Aum-Sekte", die bei uns in Japan als ein fanatischer Esoterismus beurteilt wird. Asahara, der Führer dieser Sekte, ist in jüngster Zeit samt seinen berüchtigten Fällen zu Grunde gegangen. Von der globalen Perspektive der ganzen Gesellschaft aus gesehen ist nun folgende Interpretation möglich: Die Sekte "Aum" hat Protestaktionen gegen die modernisierte, bürgerliche Gesellschaft in ihrer ureigenen Art ausgeübt. In dieser Hinsicht darf man das Wesen der New Age Mouvement und die Esoterik weiter forschen. Für mich selbst ist die Grundtendenz der letzteren nicht uninteressant: Meines Erachtens darf man sie nicht mit einem verächtlichen Stichwort zur Seite schieben.

7. Sie haben von der Praxis der Friedensbewegung erwähnt. Ich anerkenne die Relevanz hiervon. Und in Ihrem Aufsatz präsentieren Sie Ihren Grundgedanken: "Im Herzen der Praxis in jeglicher Art liegt der Geist des Betens." Ich begreife nicht, in welcher Weise das Beten mit der sozialen Praxis in Beziehung stehen kann! Meiner Meinung nach stünde das Gebet der sozialen Praxis entgegen---.

Soweit ist meine aufrichtige Meinung zur Position Prof. Bader: Einiges habe ich inzwischen ergänzt. Herr Bader wird in der Zeitschrift der "Wiener Blätter für Friedensforschung" auf meine Fragen antworten.+) 

Anmerkungen

1) Erwin Bader: Geboren 1943 in Schladming, Philosoph, Politikwissenschaftler, katholischer Religionslehrer. Vorsitzender des Zentrums für Friedensforschung der Universität Wien. Er war Aktivist des VSSTÖ (Verband Sozialistischer Studenten Österreichs) Später beteiligte er sich an der Ökumenischen Bewegung. Weitere Mitwirkung bei der Anti-Atomkraft-Bewegung sowie der Bewegung des Umweltschutzproblems.

2) Erwin Bader, "Für ein Europa des Geistes", in: Günther Witzany (Hrsg.) , "Zukunft Österreich", Salzburg 1998, S. 34. (Die im folgenden angegebene Seitenzahl entspricht der dieses Buches.) [Dieses und die folgenden Zitate wurden aus dem deutschen Original entnommen. Die Rückübersetzung aus dem Japanischen hätte hier wörtlich gelautet: "Die Bürger des österreichischen Staates wurden samt ihrer eigentlichen Rechte bei der wichtigen Entscheidung ignoriert. Überraschend wurden sie zur Abstimmung motiviert, so daß sie der EU letzten Endes nur bejahend entgegenkommen mußten." Anm. E.B.]

3) Das Buch besteht aus den Beiträgen von 11 Autoren. Darin befindet sich der Protest von Hundertwasser, einem renommierten Architekten und Maler im gegenwärtigen Österreich: "Der Beitritt in EU als ein Verrat Österreichs". Als ein aktiver Ökologist beteiligt sich Hundertwasser an der Bewegung für die Berechtigung des Umweltschutzes der Natur. Das im Tourismus in Wien bekannte „Hundertwasser Haus“ ist eines seiner Werke. Im übrigen fand im Jahre 1999 eine Ausstellung "Werke Hundertwassers" in der Präfektur Saitama (Japan) statt.

4) Bader, "Einige sozial- und religionsphilosophische Bemerkungen in Hinblick auf den Friedensdialog der Weltreligionen", in: "Wiener Blätter zur Friedensforschung", Nr. 92, Jahrgang 1997, S. 13ff. Die im folgenden angegebene Seitenzahl entspricht der dieses Beitrags.

5) K. M. Kantor, "Zwei Projekte der Weltgeschichte", in: Lischev / Kegeler, "Abschied vom Marxismus", Hamburg 1992, S. 131ff.

6) Fukazawa Hidetaka, "Zwischen der Aufklärung und der Ironie", hrsg. von der Hitotsubashi-Universität, Reihe "Abhandlung der Wissenschaften: Hitotsubashi",Tokyo 1996, S. 769.

7) Shimazaki Takashi, "Anmerkungen zu Erwin Baders Beitrag über den Dialog der Weltreligionen", in: "Wiener Blätter zur Friedensforschung", Nr. 93, 1997.

*) „Ein beträchtlicher Verstoß gegen die Staatsverfassungen, daß eine solche wichtige Entscheidung nur in einem Monat erfolgte.“

+) Vgl.: Antwort auf Professor Shimazaki, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung, Heft 104, Wien September/3/2000.