Sehr geehrter Herr Bundespräsident Univ.-Prof. Dr. Heinz Fischer!

 

Die Unterzeichnenden, Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachrichtungen, wenden sich mit diesem Schreiben an Sie als Staatsoberhaupt.

Das Motiv der Unterzeichner dieses Briefes ist unabhängig von Parteirichtungen bzw. von Befürwortung oder Ablehnung der EU sowie des EU-Reformvertrags; auch nicht die sensible Frage der Neutralität wird hier eigens behandelt, uns vereint nur die Sorge um die Zukunft der Demokratie in Österreich. Uns ist evident, daß der Beschluß des Nationalrats am 9. 4. 2008 über den EU-Reformvertrag ohne Volksabstimmung nicht als demokratisch anzusehen ist und der Erwartung einer großen Mehrheit der Bevölkerung widerspricht.

Wir leben in einer Zeit der Globalisierung, die mehr Umsicht für die Zukunft erfordert, als die Politik derzeit besitzt. Nur gut funktionierende Demokratien werden aber den immer größer werdenden Herausforderungen auf Dauer gewachsen sein. Die Tatsache, dass dieser Nationalratsbeschluss zwar mit großer Mehrheit im Parlament, aber ohne Zustimmung der Bevölkerung erfolgte, obwohl dies von einer satten Mehrheit der Bevölkerung erwartet worden wäre, kann als Symptom gedeutet werden, dass sich die gegenwärtige Politik von den freien Meinungs- und Willensbildung der Bevölkerung vorsätzlich abkoppelt. Dies könnte aber fatale Folgen für Österreich haben!

Derzeit kommt es in allen Demokratien zu einer Entfremdung der Politik von der Bevölkerung; die Reformbedürftigkeit der Demokratie wurde nicht nur in Österreich zu lange ignoriert, aber ein Land, dessen Verfassung auf Hans Kelsen zurückgeht, besitzt ein besonders hohes Maß an Verantwortung. Nach wie vor gilt das Wort von Franz Grillparzer: Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Hans Kelsen hat nachdrücklich die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Einrichtungen verlangt, und auch Ernst Fraenkel sowie in der Folge alle maßgeblichen Fachleute haben die Bedeutung des Wechselspiels dieser beiden Komponenten der Demokratie betont. Die Volksvertreter rechtfertigen ihr Vorgehen am 9. 4. 2008 zu Unrecht mit dem Argument, Österreich sei eine repräsentative Demokratie und das Volk brauche nicht gefragt zu werden, denn eine rein repräsentative Demokratie ohne plebiszitäre Korrekturmöglichkeiten widerspräche (auch nach Kelsen) dem Wesen der Demokratie. Außerdem wurde durch die EU gerade die repräsentative Komponente der Demokratie stark ausgehöhlt, seit ein beachtlicher Teil der legislativen Entscheidungen nicht frei und unabhängig durch die vom Volk gewählten Repräsentanten in den Parlamenten, sondern von einem Gremium in Brüssel ohne demokratisch-repräsentativer Legitimation beschlossen werden. Nicht nur K. A. Schachtschneider, sondern auch viele pro EU eingestellte Fachleute beklagen, dass das demokratische Defizit der Rechtssetzung der EU nicht behebbar sei. Dieser Mangel wäre allerdings behebbar, wenn im Rahmen der EU das Subsidiaritätsprinzip dahingehend gestärkt würde, dass in den Einzelstaaten die plebiszitären Einrichtungen optimiert würden. Der renommierte US- Politologe Benjamin Barber verlangt die Verbesserung des partizipatorischen Aspekts für alle Demokratien; er spricht in diesem Sinne von einer „strong democracy“. Was für alle westlichen Demokratien der Gegenwart gut wäre, ist für die Staaten der EU wohl unvermeidlich, denn ohne eine solche Stärkung der demokratischen Rückbindung wäre das EU-Projekt früher oder später zum Scheitern verurteilt. Hingegen sind die gegenwärtig empfohlenen plebiszitären Einrichtungen auf der Ebene der gesamten EU kaum zielführend, da es ja derzeit gar keine gesamteuropäische Öffentlichkeit gibt, innerhalb welcher der erforderliche freie Meinungs- und Willensbildungsprozess der europäischen Bürgerschaft stattfinden könnte.

Wir bitten Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, davon auszugehen, dass der Artikel 1 unserer Verfassung der Kernsatz und die Legitimation aller übrigen Verfassungsgesetze ist. Nur vom grundsätzlichen Vorrang der freien Entscheidung durch die Bürgerschaft vor der obrigkeitlichen Herrschaftsfunktion des Staates über die Bürgerschaft, kann Artikel 44, Abs. 3 des B-VG richtig interpretiert werden. Die Vertiefung der EU seit dem Beitritt Österreichs, speziell durch den Vertrag von Lissabon, ist unbestreitbar und daraus folgt logisch eine teilweise kontinuierliche, aber nichts desto weniger reale, im Vertrag von Lissabon kulminierende Gesamtveränderung der Verfassung. Die bisweilen zu hörende Auffassung, dass durch den EU-Beitritt jede spätere Gesamtänderung der österreichischen Verfassung bereits abgesegnet worden wäre, wäre demokratiepolitisch und im Sinne des Art. 1 B-VG absolut unhaltbar, weil diese Interpretation daraus hinauslaufen würde, dass das Volk mit einem einmaligen Votum in aller Zukunft auf wesentliche demokratische Rechte verzichtet hätte. Ein Gesetzesbeschluss, durch welchen Kernbereiche der Demokratie aufgehoben würden, wäre selbst dann im Sinne des demokratischen Grundverständnisses verfassungswidrig, wenn er durch eine Volksabstimmung bestätigt würde. Wie René Marcic betonte, ist die Demokratie ein progressiver Prozeß zur Einbeziehung aller Gemeinschaftsmitglieder in die Politik und muß ohne Stillstand als „Baustil des Wandels“ funktionieren. Das Verständnis des Verfassungsrechts darf sich nicht von der demokratietheoretischen Rückbindung abkoppeln.

Durch die Tendenz zur strikten Einhaltung der Zielvorgaben der EU leidet der Staat zunehmend unter einer demokratiepolitischen Selbstlähmung. Sobald das Volk aber nicht mehr der Überzeugung ist, als Souverän des Staates anerkannt zu werden, ist ein Schwund des Vertrauens in die traditionellen Parteien, eine Radikalisierung anderer politischer Bewegungen und ein Abgleiten von großen Volksmassen an ideologische Ränder nicht auszuschließen.

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Wir appellieren an Sie, dem Artikel 1 der Verfassung, wonach das Recht der Republik vom Volk ausgeht, in Österreich wieder stärkere Beachtung zu schenken, denn andernfalls droht Gefahr für die Demokratie. Die Gesamtänderung der Verfassung im Zuge der Vertiefung der europäischen Integration ist nicht zu bestreiten und eine allfällige Ratifizierung des Vertrags von Lissabon durch die Republik Österreich unterliegt folglich der verfassungsrechtlichen Vorschrift des Art. 44 Abs. 3 B-VG. Das politische Kalkül einer eventuellen Ablehnung durch das Volk kann niemals grundlegende demokratische Prinzipien außer Kraft setzen. Daher ersuchen wir Sie, mit Ihrer Unterschrift unter den Nationalratsbeschluss über die Ratifizierung des EU-Reformvertrags zu zögern und die Regierung / den Bundeskanzler aufzufordern, nach einer Information der Bevölkerung eine Volksabstimmung über diese Frage einzuleiten, um die Gesetzeskraft der Ratifizierung vom Ergebnis dieser Volksabstimmung abhängig zu machen.

 

Mit vorzüglicher Hochachtung!

Wien, 23. 04. 2008

Univ.-Prof. DI Dr. Hans-Peter Aubauer
Univ.-Prof. Dr. Erwin Bader
Univ.-Lektor Mag. Christian Felber
Univ.-Prof. Dr. Adrian Hollaender
Univ.-Prof. Dr. Gerhard Jagschitz
Univ.-Prof. DI Dr. Hermann Knoflacher
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Kromp
Univ.-Prof. Dr. Peter Moeschl
Univ.-Prof. DI Dr. Heinrich Noller
Univ.-Prof. Dr. Herbert Vonach
Univ.-Doz. Dr. Peter Weish

Erwin Bader e. h. im Namen aller Unterzeichner