Grobe Verstimmung zwischen Paris und London

Nach harten Worten zwischen Blair und Chirac beim EU-Gipfel folgen weitere Auseinandersetzungen.

 

LONDON (ag., wb). Zwischen London und Paris herrscht seit dem EU-Gipfel der vergangenen Woche Eiszeit. Nach einem Wortgefecht am Rande des Gipfels zwischen dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac und dem britischen Premierminister Tony Blair, bei dem es um die EU-Agrarpolitik gegangen war, droht eine ernstliche diplomatische Verstimmung. Chirac soll dem Vernehmen nach bereits den anglo-französischen Gipfel Anfang Dezember abgesagt haben.

Am Dienstag setzte Frankreichs Landwirtschaftsminister Hervé Gaymard nach. Er beschuldigte die britische Regierung, gegen jede gemeinsame europäische Politik aufzutreten - und das schon "seit 40 Jahren". "Für die Briten ist die Union lediglich eine Freihandelszone, aber keine politische Gemeinschaft, die ihre eigene Identität entwickeln muß." Gaymard sprach sich dafür aus, den britischen Rabatt ab 2006 endlich zu kürzen.

Der Konflikt um die Agrarpolitik und die bisherigen Begünstigungen Großbritanniens bei seinen Zahlungen an das Gemeinschaftsbudget hatte bereits vor dem EU-Gipfel begonnen, als Chirac im Gegenzug für ein Einlenken bei den Agrar-Direktzahlungen das Ende des britischen Rabatts gefordert hatte. Beim EU-Gipfel selbst war es dann zu einem unfreundlichen Wortwechsel gekommen. Die "Financial Times" zitierte Chirac, der im Beisein mehrerer Regierungschefs zu Blair gesagt haben soll: "Sie sind unverschämt, so hat noch niemand je zuvor mit mir gesprochen."
Chiracs Angriff auf Blair sei "absolut außergewöhnlich" sagte ein britischer Diplomat. Der Disput wurde von keiner Seite dementiert, wenngleich es in London hieß, daß die Beziehungen zu Paris weiterhin ausgezeichnet seien.
Blair war beim EU-Gipfel offen gegen Chiracs Position in der Landwirtschaft aufgetreten. Zwar war der von Chirac und Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder ausgearbeitete Kompromiß zur Aufrechterhaltung der Direktzahlungen an die Landwirtschaft schließlich von allen Mitgliedsstaaten - also auch von Großbritannien - akzeptiert worden. Doch dürfte dies damit zusammenhängen, daß kein Regierungschef die Erweiterung deshalb blockieren wollte. Blair protestierte dennoch, daß ein solches System der Liberalisierung der Märkte völlig entgegen stehe. Auch öffentlich wies er darauf hin, daß eine solch protektionistische Politik den Zielen der Welthandelsorganisation (WTO) widerspreche.

Zu Blairs Unmut über den deutsch-französischen Alleingang dürfte auch der Ärger über Chiracs Position in der Irak-Politik gekommen sein. Seit Wochen bestehen schwere Differenzen zwischen London und Paris über einen Angriff gegen Saddam Hussein.

30.10.2002 Quelle: Print-Presse